Schmelzendes Eis legt Handelsrouten frei - Im Nordpolarmeer passiert etwas Einzigartiges – und Deutschland ist davon betroffen
Die Erde kennt fünf Ozeane: Atlantik, Pazifik und Indischer Ozean dürften jedem geläufig sein, doch sowohl das Nordpolarmeer als auch das Südpolarmeer gelten in der Wissenschaft als eigene Ozeane. In der Regel spielen beide für die Schifffahrt aber keine große Rolle. Das Südpolarmeer umschließt die unbewohnte Antarktis. Hier müssen keine Waren oder Passagiere verschifft werden. Das Nordpolarmeer wiederum beschreibt die Wassermassen rund um den Nordpol zwischen Sibirien auf der einen sowie Nordkanada, Alaska und Grönland auf der anderen Seite. Bisher war auch dieses für die Schifffahrt unwichtig, weil es die meiste Zeit des Jahres von Eis bedeckt ist.
Doch mit dem Klimawandel geht das Eis immer weiter zurück und legt damit eisfreie Schiffsrouten frei. Manche von ihnen sind jetzt schon zeitweise pro Jahr befahrbar, andere werden erst in den kommenden Jahrzehnten eine immer größere Rolle spielen. Der Kampf um die Vorherrschaft in der Arktis hat aber jetzt schon begonnen, wie zuletzt der Vorstoß des neuen US-Präsidenten Donald Trump zeigte, Grönland unter US-Kontrolle bringen zu wollen. Nun ist Deutschland zwar bei weitem kein Anrainer des Nordpolarmeeres - von dem Streit sind wir aber trotzdem betroffen und deswegen auch aktiv involviert.
Deswegen wollen wir hier drei Fragen klären:
- Um welche Routen durch das Nordpolarmeer geht es und was zeichnet sie aus?
- Wie werden diese Routen den Welthandel und damit auch die deutsche Wirtschaft beeinflussen?
- Und was kann und muss eine neue Bundesregierung tun, damit Deutschland davon profitieren kann?
Diese neue Handelsrouten entstehen in der Arktis
Bisher war der Arktische Ozean höchstens etwas für Eisbrecher. Im Winter ist das Meer noch immer komplett zugefroren, doch im Sommer lichtet sich die Eisdecke immer mehr. Für 2024 maß die US-amerikanische NASA mit Satelliten nur noch eine Eisdecke von 4,39 Millionen Quadratkilometern. Das ist zwar immer noch beeindruckende zwölfmal so groß wie Deutschland, aber rund ein Viertel weniger als noch vor 20 Jahren – Tendenz sinkend. Das Eis schmilzt dabei vor allem an den weiter vom Nordpol entfernten Küstenregionen weg und macht diese überhaupt für normale Containerschiffe befahrbar. Denn normalerweise können nur eistaugliche Schiffe diese Routen einschlagen, da diese einen dickeren Rumpf haben und somit auch Eisschichten durchbrechen können. Für normale Containerschiffe gibt es daher drei mögliche Routen:
1. Die Nordostpassage
Die Nordostpassage führt von der Barentssee nördlich von Norwegen an der Nordküste Russland in Sibirien entlang bis zur Beringstraße, die Russland und Alaska voneinander trennt. Von allen drei Routen ist sie die Einzige, die heute schon zunehmend befahren wird – allerdings noch in geringem Maße. 2021 passierten sie im gesamten Jahr 3227 Schiffe, wobei mehr als die Hälfte von ihnen in der eisfreien Zeit von Juli bis Oktober fuhren. In dieser Zahl sind allerdings auch die Fahrten eistauglicher Schiffe enthalten.
Die deutsche Stiftung Wissenschaft und Politik zählte abzüglich derer für das Jahr 2019 nur 452 Schiffe. Nur 37 davon waren allerdings Transit-Fahrten, also Fahrten durch die gesamte Passage. Die meisten Schiffe befahren nur einen Teil der Nordostpassage. Russland nutzt sie, um seine Rohstoffe zu exportieren. Seit 2022 ist durch den Ukraine-Krieg und die Sanktionen gegen Russland auch der Betrieb auf der Nordostpassage eingebrochen.
In Zukunft könnte sie für den Warentransport von Asien nach Europa eine wichtigere Rolle spielen. Zwischen bestimmten Häfen etwa im Norden China und Nord- oder Mitteleuropa ist die Route kürzer als der südliche Weg durch die Straße von Melakka und den Suez-Kanal. Auch an die Westküste der USA sind die Distanzen geringer. Ein Schiff von Hamburg nach Seattle müsste etwa über die Nordostpassage nur 13.459 Kilometer zurücklegen. Durch den Panamakanal sind es derzeit 17.110 Kilometer. In der Theorie spart die Passage also Zeit und Treibstoff. Allerdings hat Russland den Daumen auf der Route. Selbst in Vorkriegszeiten durften nur wenige ausländische Schiffe, meist aus China, die Route passieren.

2. Die Nordwestpassage
Die Nordwestpassage führt zwischen Grönland und dem amerikanischen Festland nach Norden und dann durch das kanadisch-arktische Archipel zur Beringstraße zwischen Alaska und Russland. Es gibt hier nicht die eine Route, weil das Archipel aus 36.000 Inseln besteht und so je nach Bedingungen Schiffe anders dort hindurch navigieren müssen. Außerdem hält sich Eis zwischen den Inseln länger als auf dem offenen Meer, so dass die Passage noch nicht zuverlässig von nicht-eistauglichen Frachtern genutzt werden kann. Ähnlich wie Russland möchte Kanada die Passage eng kontrollieren, da sie durch sein Hoheitsgebiet führt. In jahrelangem Streit mit den USA kam es 1988 zu dem Kompromiss, dass US-Schiffe für die Durchfahrt um Erlaubnis fragen müssen, diese aber stets gewährt wird. Andere Nationen nutzen die Passage bisher kaum.
Während die Nordwestpassage heute noch nicht eisfrei genug etwa für die Containerschifffahrt ist, wird sich das schon den 2030er Jahren nach jetzigem Trend ändern. Dann könnte die Route immer länger im Jahr eisfrei befahren werden. Für europäische Frachter wäre das aber nur von wenig Nutzen. Profitieren würden die USA, die Waren von einer zu anderen Küste um Kanada herum mutmaßlich schneller transportieren könnten als auf der südlichen Route durch den Panama-Kanal – und die hohen Transitgebühren dort sparen würden.
3. Die Transpolare Passage
Neben den beiden Routen an den Küsten Russlands und Kanadas entlang gäbe es noch die direkte Route durch das Nordpolarmeer von der Beringstraße über den Nordpol nach Norwegen oder Grönland. Sie spielt heute noch gar keine Rolle, weil der Nordpol und seine Umgebung ganzjährig von Eis bedeckt ist. Das könnte sich aber schon in den 2040er Jahren ändern. Sie würde noch einmal tausende Kilometer sparen. Während die Nordostpassage rund 6500 Kilometer lang ist und die Nordwestpassage rund 5800 Kilometer, ließe sich das Nordpolarmee mit der Transpolaren Passage in 3900 Kilometern überqueren. Besser noch: Die Passage führt fast ausschließlich durch internationale Gewässer und kann daher nicht von Staaten kontrolliert werden.
Welche Bedeutung werden die Routen für den Welthandel haben?
Christoph Humrich, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Groningen, ist skeptisch, was den tatsächlichen Einfluss der neuen Handelsrouten auf die Weltwirtschaft angeht: „In den kommenden 20 Jahren wird es da keinen dramatischen Anstieg der Schifffahrt geben“, sagt er. Zwar sind die Wege kürzer, aber auch die Bedingungen schlechter. Selbst ohne Eis ist das Nordpolarmeer ein rauer Ort, bei dem das Wetter Transporte immer wieder verzögern wird. Zudem wird es noch dauern, bis Riesen-Containerschiffe die Passagen passieren können. Und zu guter Letzt fehlt es an Zentren auf der Strecke, an denen Waren auf- und abgeladen werden können.
Ein Containerschiff von Shanghai nach Hamburg macht auf dem Weg bisher etwa etliche Stopps, zum Beispiel in Singapur, Indien oder im Mittelmeer, um dort Waren zu tauschen. Diese Möglichkeit entfiele auf den Polarrouten. Hinzu kommt, dass diese auch dadurch gefährlicher sind, dass es an Infrastruktur zur Seerettung fehlt. Verunglückt ein Containerschiff im Nordpolarmeer, könnte es Tage dauern, bis Retter überhaupt zur Stelle sind – für Reedereien ein enormes Risiko.
Trotzdem: „Je mehr die Arktis wirtschaftlich genutzt wird, desto mehr Verkehr wird es auch auf den Polarrouten geben“, sagt Humrich. Darunter fällt etwa auch Tourismus. Kreuzfahrten zum Nordpol dürften ein attraktives Angebot werden, sobald dieser eisfrei ist. „Aber dass uns in Deutschland Waren dadurch günstiger erreichen, glaube ich nicht“, sagt Humrich.
Welche Auswirkungen hätte das Schmelzen des arktischen Eises?
Die Entstehung neuer Seerouten ist nicht die einzige Konsequenz, die uns durch das Abschmelzen des antarktischen Eises blüht. Denn neben dem bereits bekannten einem Ansteigen des Meeresspiegels - dessen Konsequenzen wiederum Insel- und Küstenländer weltweit bedrohen würden - führt der Rückgang der Arktis zu einem sogenannten Rückkopplungseffekt: Normalerweise reflektieren die riesigen Eisflächen das Sonnenlicht zurück ins All. Doch je mehr Eis taut, desto mehr dunklere Meeresoberflächen entstehen. Diese wiederum nehmen die Wärme auf und befeuern das Auftauen des arktischen Eises zusätzlich.
Schon jetzt steigen die Temperaturen in der Arktis doppelt so schnell wie im Rest der Welt. Und dabei bleibt es nicht: Es kommt zu weiteren Wetterveränderungen, die mit unseren Meeresströmungen zusammenhängen. Vereinfacht gesagt trägt die Eisschmelze in der Arktis dazu bei, dass vermehrt Süßwasser ins Meer gelangt. Im Nordatlantik herrscht ein sensibles Gleichgewicht aus kaltem, schwerem Salzwasser und leichterem Süßwasser. Diese Meeresströmung transportiert Wasser über den Golfstrom Richtung Äquator, das sich dort erwärmt. Diese Wärme wiederum wird ebenfalls über ein komplexes System an Strömungen zurück zur Nordhalbkugel transportiert und bestimmt dort auch das Wetter in Deutschland.
Kurz gesagt: Je mehr Meereis schmilzt und neue Schiffsrouten entstehen lässt, desto mehr bis dato schwer vorhersagbare Konsequenzen entstehen für uns und unser Wetter.
Warum sollten uns die Nordpolarrouten dann überhaupt kümmern?
„Die Polarrouten haben eine starke symbolische Bedeutung“, sagt Humrich. Kern ist der Begriff einer Internationalen Schifffahrtsroute. Es gilt: Führt eine solche Route durch das Hoheitsgebiet eines Staates, darf dieser nach internationalem Seerecht Schiffe nicht am Transit hindern. Das ist zum Beispiel für den Warenhandel durch Ostsee oder Mittelmeer wichtig, wo so gut wie jedes Stückchen Wasser irgendeinem Staat gehört.
Internationale Schifffahrtsrouten werden dabei nicht offiziell deklariert, sondern sind immer ein Stück Verhandlungssache. Zwei Aspekte bestimmen, was so eine Route ist:
- Entweder ist sie traditionell schon immer eine wichtige Handelsroute gewesen - wie etwa die Ostsee- und Mittelmeerrouten
- Oder sie ist die schnellste Verbindung zwischen zwei Ozeanen - das gilt für die Straße von Melakka in Südostasien oder die Route um das Kap der Guten Hoffnung von Südafrika
- Künstliche Wasserstraßen wie der Suez-Kanal oder der Panama-Kanal hingegen sind keine internationalen Routen, deswegen dürfen Länder wie Panama oder Ägypten hohe Gebühren für die Durchfahrt verlangen
Im Nordpolarmeer wird es nun kompliziert, weil hier erstmals in der modernen Menschheitsgeschichte neue Wasserstraßen auf natürliche Weise entstehen. Die Anrainerländer, allen voran Russland und Kanada, pochen entsprechend darauf, dass diese Wege durch ihr Territorium führen und sie die Routen entsprechend regulieren dürfen. Andere Länder wie die USA und China argumentieren, dass es sich hier um freie Verbindungen zwischen Weltmeeren handelt.
Kampf um Freiheit der Wasserstraßen?
Diese Diskussion und ihr Ausgang ist wichtiger als Sie denken. Auch Deutschland beteiligt sich daran und pocht auf die Freiheit der Wasserstraßen rund um den Polarkreis. Der Grund ist simpel: Würden sich Russland und Kanada durchsetzen und die Routen als ihr Eigentum deklarieren, gäbe es wenig, was andere Länder davon abhielte, bestehende Routen ebenfalls zu reglementieren.
Besonders China fürchtet, dass dann die USA etwa die für die Asiaten wichtige Straße von Malakka abriegeln könnten. Aber auch für Deutschland wird es dann schwerer: Der Iran könnte etwa die Straße von Hormus blockieren, Ägypten und Saudi-Arabien Gebühren für den Transit durch das Rote Meer verlangen oder Spanien für die Straße von Gibraltar. Für die deutsche Exportindustrie wäre das eine Katastrophe.
Entsprechend hat die deutsche Bundesregierung „höchstes Interesse an einem freien Seeverkehr auf sicheren Seewegen“, wie es das Bundesverkehrsministerium in seiner Haltung zum Seeverkehr schon 2019 formulierte. Dieses Interesse muss dann aber auch durchgesetzt werden. In der Regel geschieht dies auf diplomatischem Wege, doch der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hatte bereits 2010 eine Debatte losgetreten, als er am Rand seines Truppenbesuchs in Afghanistan sagte, „dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege.“ Sollten Trumps Drohungen, sich Kontrolle über die arktischen Seewege durch Einverleibung Grönlands möglicherweise militärisch zu sichern, wahr werden, könnte diese Haltung Deutschlands früher als gedacht ernsthaft getestet werden.