„Einer Explosion“ nahe: Gewalt im Westjordanland könnte eskalieren

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Der rechtsgerichtete israelische Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, wohnt selbst in den besetzten Gebieten. © IMAGO/DEBBIE HILL

Seit Jahren brodelt es in den besetzten Gebieten. Die Gewalt zwischen Siedlern und Palästinensern spitzt sich zu. Eine Lösung ist nicht in Sicht.

Jerusalem – Noch immer ist unklar, wie es nach einem möglichen Ende des Nahost-Kriegs weitergehen soll. US-Präsident Joe Biden plädiert weiterhin für eine Zwei-Staaten-Lösung. Diese sei „der einzige Weg, um die langfristige Sicherheit sowohl des israelischen als auch des palästinensischen Volkes zu gewährleisten“, so Biden im November 2023 in einem Gastbeitrag in der Washington Post. Im selben Atemzug kritisierte der US-Präsident abermals „die extremistische Gewalt gegen Palästinenser im Westjordanland“ und betonte, dass diejenigen, die diese Gewalt ausübten, zur Verantwortung gezogen werden müssten.

Aktivisten beklagen seit längerem, dass die Gewalt durch Siedler im Westjordanland im Schatten des Kriegs in Israel zugenommen hat. Laut ARD-Tagesschau wurden von Menschenrechtsorganisationen allein im ersten Monat nach Beginn des Krieges mehr als 170 Fälle von Siedlergewalt dokumentiert. Straßensperren seien errichtet, Olivenbäume entwurzelt sowie Brunnen und Häuser zerstört worden. Laut einem Bericht des UN-Menschenrechtsbüros haben israelische Sicherheitskräfte im Jahr 2023 insgesamt 492 Palästinenser im Westjordanland getötet; Palästinenser töteten 29 Israelis. Allein in Zeitraum nach dem 7. Oktober 2023 wurden im Westjordanland mindestens ein Dutzend Menschen von israelischen Siedlern getötet. Das schreibt die Süddeutsche Zeitung.

Koexistenz von wütenden Siedlern und Palästinensern - Eine katastrophale Sackgasse

Seit Israel das Westjordanland 1967 von Jordanien erobert hat, hat eine kontinuierliche Besiedlung zu einer katastrophalen Sackgasse geführt. Eine halbe Million Siedler leben heute in explosiver Nähe zu drei Millionen Palästinensern. „Eine unfähige, unfähige und unpopuläre Palästinensische Autonomiebehörde, ein sprachloses palästinensisches Volk, bewaffnete Siedler und ein israelisches Militär mit einer zweideutigen Mission koexistieren in dem tückischen Vakuum einer vermeintlichen, aber immer weniger vorstellbaren palästinensischen Staatlichkeit“, so der Journalist Roger Cohen in der New York Times. Seit Jahrzehnten besteht eine ausweglose Situation, die immer wieder zu Gewaltausbrüchen, darunter zwei Intifadas, geführt hat.

Was bedeutet „Intifada“

Der Begriff „Intifada“ stammt aus dem Arabischen und bedeutet wörtlich übersetzt „Erschütterung“ oder „Aufstand“. Er wird häufig im Zusammenhang mit den palästinensisch-israelischen Konflikten verwendet, um bestimmte Phasen von gewalttätigem Widerstand und Aufständen zu beschreiben.

Es gab zwei Hauptphasen der Intifada im Kontext des Israel-Palästina-Konflikts:
Erste Intifada (1987–1993): Diese begann im Dezember 1987 in den besetzten Gebieten, insbesondere im Gazastreifen und im Westjordanland. Palästinenser, hauptsächlich junge Menschen, begannen Massenproteste, Straßenblockaden und Steinwürfe gegen israelische Truppen. Der Aufstand dauerte bis etwa 1993 und führte zu politischen Veränderungen und Verhandlungen, die schließlich zum Oslo-Friedensprozess führten.
Zweite Intifada (2000–2005): Diese begann im September 2000, nachdem die Verhandlungen des Oslo-Friedensprozesses zusammengebrochen waren. Die Gewalt eskalierte mit Selbstmordattentaten, Bombenanschlägen und bewaffneten Konfrontationen zwischen palästinensischen Gruppen und israelischen Streitkräften. Die Zweite Intifada endete nicht so deutlich wie die Erste und hinterließ tiefe Wunden im Konflikt, die bis heute spürbar sind.

Was für den Großteil der Welt eine illegale Besiedlung des Westjordanlands ist, ist für zahllose Israelis der ultimative Akt der Rückkehr ins heilige Land. Auch wenn diese Rückkehr nach internationalem Recht als kriegerische Besatzung gilt. Trotzdem sehen sich die Siedler im Recht, wie am Beispiel der Stadt Huwara deutlich wird. Mitten durch die palästinensische Ortschaft, die von israelischen Siedlungen umgeben ist, führt die israelische Nord-Süd-Autobahn. Daher sei die Straße allein im vergangenen Jahr zehnmal gesperrt worden, so ein Beamter der Stadt gegenüber der New York Times.

Die IDF kommt ihrer Aufgabe nicht nach - Ben-Gvir rüstet die Siedler mit automatischen Waffen aus

Nachdem ein militanter Palästinenser zwei Siedler erschossen habe, als diese durch die Siedlung fuhren, hätten die Israelis Vergeltung geübt, so die Zeitung. Sie hätten Autos, Geschäfte und Häuser angezündet sowie mindestens einen Palästinenser getötet und weitere verletzt. Die israelische Armee sei zwar mit der Aufrechterhaltung der Ordnung beauftragt, habe den Aufruhr jedoch nicht verhindert. Viele israelische Politiker hätten die Gewalt der Siedler sogar verherrlicht. Bezalel Smotrich, Israels Finanzminister, habe dazu aufgerufen, Huwara „auszulöschen“ – nicht durch gesetzlose Siedler. Dies solle „der Staat Israel tun“, so Smotrich.

Smotrich sei nicht nur im Rahmen eines Anfang 2023 mit Premierminister Benjamin Netanjahu geschlossenen Koalitionsabkommens für die Verwaltung der Siedlerangelegenheiten im Westjordanland zuständig, er wohne auch im Westjordanland. Genau wie der israelische Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, der ebenfalls ein Siedler sei.

Wie kam es zur israelischen Besetzung des Westjordanlands?

Die Besetzung des Westjordanlands durch Israel erfolgte im Rahmen des Sechstagekriegs (5. bis 10. Juni 1967), einem militärischen Konflikt zwischen Israel und seinen Nachbarländern Ägypten, Jordanien und Syrien. Bereits vor dem Sechstagekrieg bestanden erhebliche geopolitische Spannungen in der Region. Der Arabische Nationalismus und der israelisch-arabische Konflikt spielten eine zentrale Rolle.

Im Mai 1967 spitzte sich die Lage zu, als Ägypten die Straße von Tiran sperrte, einen strategisch wichtigen Seeweg für Israel. Dies wurde von Israel als kriegerischer Akt interpretiert, da es den internationalen Schiffsverkehr zu israelischen Häfen blockierte. Ägypten, Jordanien und Syrien mobilisierten Truppen und verbündeten sich gegen Israel. Die Rhetorik und die Truppenbewegungen deuteten darauf hin, dass ein Angriff auf Israel bevorstehen könnte.

Israel entschied sich für einen präventiven Militärschlag, um vermeintlichen Bedrohungen entgegenzutreten. Am 5. Juni 1967 startete Israel einen Überraschungsangriff auf ägyptische Luftwaffenbasen, wodurch die ägyptische Luftwaffe weitgehend zerstört wurde.

Im Verlauf des Sechstagekriegs eroberte Israel das Westjordanland von Jordanien. In einem schnellen militärischen Vormarsch gelang es den israelischen Streitkräften, große Teile des Gebiets unter ihre Kontrolle zu bringen. Am 10. Juni 1967 wurde ein Waffenstillstand zwischen Israel und den arabischen Staaten verkündet. Zu diesem Zeitpunkt kontrollierte Israel das Westjordanland, den Gazastreifen, die Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel.

Nach dem 7. Oktober hätten die israelischen Streitkräfte alle Geschäfte in Huwara geschlossen, so ein Anwohner namens Soasa gegenüber der New York Times. „Wir sind gefangen“, zitiert ihn die Zeitung. „Ben-Gvir rüstet die Siedler mit automatischen Waffen aus und sagt ihnen, sie sollen tun, was sie wollen, und wohin sollen wir gehen?“

„Nicht mehr weit von einer Explosion entfernt“ - Kann die Gewalt im Westjordanland beendet werden?

Seit dem Überfall der Hamas auf Israel habe Ben-Gvir seine „jüdisch-suprematistische Agenda weiter“ vorangetrieben, so das Portal Democracy for the Arab World now. Er habe Waffenvorschriften gelockert, um israelischen Bürgern den Erwerb von Schusswaffen zu erleichtern, und eine Massenbewaffnung von Juden in ganz Israel gefordert. Zudem treibe er die Einrichtung von mehr schnellen Eingreiftruppen – auf Hebräisch Kitat Konenut genannt – voran. Das sind zivile Gruppen, die im Notfall als freiwillige Verteidigungskräfte fungieren sollen. Daniel Seidemann, ein israelischer Rechtsanwalt und Leiter der NRO Terrestrial Jerusalem, warnte gegenüber dem Portal, sie seien am Ende eher so etwas wie Ben-Gvirs eigene „Privatmilizen“.

In dieser Lage stelle sich die Frage, ob der „Kreislauf des Gemetzels“ durchbrochen, eine dritte Intifada abgewendet und etwas Neues aus dem Zerfall des Westjordanlandes und dem Einmarsch Israels in den Gazastreifen entstehen könne, so Roger Cohen in der New York Times. „Wir sind nicht mehr weit von einer Explosion entfernt“, so der palästinensische Premierminister Shtayyeh. „Israel hat das Gleichgewicht verloren und verhält sich wie ein verwundeter Stier. Sie handeln aus Rache und töten um des Tötens willen“. Eine dritte Intifada sei nicht ausgeschlossen, das Ausmaß der palästinensischen Wut in Verbindung mit der Gewalt der Siedler ergebe eine brennbare Mischung. (tpn)

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