Als Friedrich Merz in Ankara die Hand des türkischen Präsidenten drückt, begegnen sich zwei Männer, die in unterschiedlichen politischen Sprachen sprechen – und sich doch in einem Punkt verstehen: Beide wissen, dass Macht nie im luftleeren Raum entsteht. Sie entsteht aus Abhängigkeiten, aus Kalkül, aus Angst. Und sie hat ihren Preis.
Für Merz heißt dieser Preis, dass er in einem Land um Vertrauen werben muss, in dem Oppositionelle im Gefängnis sitzen. Für Recep Tayyip Erdoğan bedeutet er, sich von einem Europa hofieren zu lassen, das ihm die Tür zur Mitgliedschaft längst vor der Nase zugeschlagen hat, jetzt aber zurückkehrt. Aber aus Not und nicht aus Zuneigung.
Bei Merz und Erdoğan geht es viel um Kampfjets und Verteidigungszusammenarbeit
Europa, das sich einst in der Selbstgewissheit seiner Werte sonnte, entdeckt gerade, wie relativ Moral sein kann, wenn die Welt brennt. Seit Russlands Angriff auf die Ukraine und der wachsenden Instabilität in Nahost ist die Sprache der Diplomatie eine andere geworden: „Sicherheit“, „Lieferketten“, „Rüstungskooperation“.
Die Worte klingen sachlich, fast hygienisch. Nur selten fällt noch das Wort „Freiheit“ – es passt nicht mehr recht in die Lage.
Und so reist der deutsche Kanzler nach Ankara, um über Kampfjets, Verteidigungszusammenarbeit und strategische Partnerschaften zu sprechen. Währenddessen steht in Istanbul der Oppositionsführer vor Gericht, Zeitungen werden geschlossen, Universitäten entpolitisiert, und ein ganzer Teil der Gesellschaft lebt in dem Schwebezustand zwischen Hoffnung und Resignation.
Stabilität, das weiß die Geschichte, hat eine schwache Moral
Es ist ein leiser, aber tiefgreifender Widerspruch. Einer, den die deutsche Außenpolitik seit Jahrzehnten mit sich trägt: der Versuch, Wertepolitik und Interessenpolitik unter einen Hut zu bringen.
Früher, in den 1990er Jahren, als kurdische Politiker inhaftiert wurden, erhob sich in Berlin ein Sturm der Empörung. Waffenlieferungen wurden gestoppt, Parlamentarier protestierten, die Zivilgesellschaft pochte auf Haltung.
Die Türkei ist kein Land, das man sich bequem zurechtlegen kann
Heute dagegen herrscht Schweigen – höflich, pragmatisch, professionell. Vielleicht ist es nicht einmal Zynismus, sondern Müdigkeit. Europa ist alt geworden, vorsichtig, konfliktscheu.
Nach Jahren der Krisen – Pandemie, Krieg, Energieknappheit – sucht man Stabilität um fast jeden Preis. Und Stabilität, das weiß die Geschichte, hat eine schwache Moral. Sie duldet das Unangenehme, wenn es nützlich ist.
In der Türkei bündelt sich das, was Europa an sich selbst nicht mehr sehen will
Doch die Türkei ist kein Land, das man sich bequem zurechtlegen kann. Sie ist Frontlinie und Schwelle zugleich: zwischen Ost und West, zwischen Demokratie und Autoritarismus, zwischen dem Willen zur Moderne und der Angst vor ihr.
In der Türkei bündelt sich das, was Europa an sich selbst nicht mehr sehen will – der Kampf zwischen Prinzip und Pragmatismus. Man könnte sagen: Die Türkei ist Europas schlechtes Gewissen.
Denn sie zeigt, wohin führt, was Europa längst begonnen hat – den Vorrang der Nützlichkeit über die Haltung. Wenn Merz in Ankara über gemeinsame Sicherheitsinteressen spricht, wird er kaum über die Inhaftierung von Journalisten sprechen.
Wenn er von Rüstungskooperation redet, wird er kaum erwähnen, dass die türkische Justiz längst ein politisches Instrument ist. Und doch hängt die Glaubwürdigkeit Europas genau daran – an dem Mut, beides gleichzeitig auszusprechen: das Interesse und den Zweifel.
Denn Realpolitik ist nicht wertlos. Sie ist das Handwerk des Möglichen. Aber sie verliert ihren Kompass, wenn sie das Richtige gar nicht mehr benennen will.
Ein Europa, das sich aus Angst verbiegt, verliert Sicherheit und Gesicht
Ein Europa, das seine eigenen Werte nur noch in Sonntagsreden erwähnt, wird eines Tages auch nicht mehr wissen, warum es sie einmal verteidigen wollte.
Vielleicht wäre das größte Zeichen politischer Reife, in Ankara nicht nur über Waffen, sondern auch über Würde zu sprechen. Über die Würde jener, die in der Türkei jeden Tag für Demokratie eintreten – Journalisten, Studierende, Aktivistinnen, Bürgermeister. Über den Mut, sich nicht in das Schweigen der Diplomatie zu flüchten.
Denn letztlich ist auch Sicherheit ohne Freiheit nichts anderes als eine andere Form der Angst. Und ein Europa, das sich aus Angst verbiegt, verliert am Ende beides: seine Sicherheit und sein Gesicht.
Wenn also in Ankara die Kameras klicken, wird sich entscheiden, was dieser Besuch bedeutet. Wird er ein Symbol der Notwendigkeit – oder ein Bekenntnis zur Gleichgültigkeit?
Vielleicht liegt darin die eigentliche Frage unserer Zeit: Wie viel Realpolitik verträgt ein Gewissen, bevor es verstummt?
- Der Text erschien zuerst bei freiheit.org, der Website der Friedrich-Naumann-Stiftung
Aret Demirci ist Politikwissenschaftler und Leiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.