Baustellen bei Deutscher Bahn fallen während EM unangenehm auf – reichlich Spott im Ausland

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Nicht nur Fußball-Fans verzweifeln mitunter an der Deutschen Bahn. Was ist nur los? © Andreas Arnold

Es ist ein bisschen peinlich: Was ist denn mit der Bahn in Deutschland los, fragen sich entsetzt viele ausländische Fußball-Fans, die fast ihre Spiele verpassen. Ein Blick in die Zahlen zeigt den Ernst der Lage.

München – Laptop, Wasserglas, Powerpoint – mehr braucht es nicht, um ein Milliardenprojekt zu verkünden. An einem Freitag im Juni sitzt Gerd Matschke, bei der Deutschen Bahn zuständig für Großprojekte in Südbayern, in einem schmucklosen Veranstaltungsraum eines Augsburger Tagungszentrum und verkündet eine kühne Version. Die Bahn plant zwischen Augsburg und Ulm eine Neubaustrecke. Matschke nimmt einen Schluck Wasser und gerät ins Schwärmen. Augsburg und Ulm werde künftig „fast eine S-Bahn-Relation“ sein. Es ist ein schönes, wenngleich reichlich fernes Versprechen. Die Strecke dürfte Ende der 2030er-Jahren fertig werden. So wie auch die 2. S-Bahn-Stammstrecke in München. Oder der zweigleisige Ausbau der Strecke München-Mühldorf. Und der Brenner-Zulauf durchs Rosenheimer Inntal. Alles unendlich weit weg.

Schöne Visionen also, aber eine schnöde Wirklichkeit. Immer noch gilt Deutschland als Inbegriff von Ordnung und Zuverlässigkeit. Die Zustände der DB passen da nicht ins Bild, wie jetzt bei der EM viele Fußball-Fans und kürzlich auch die „New York Times“ irritiert feststellten: „Züge sind verspätet. Züge kommen nicht an. Anschlüsse werden verpasst und die Menschen sitzen fest. Setzen Sie sich in einen DB-Wagen, wenn eine Verspätung angekündigt wird, und achten Sie auf die Blicke, die die Deutschen austauschen, und darauf, wie sie mit den Augen rollen.“ Die „SZ“ kommentierte, die Deutsche Bahn sei der wahre „Angst-Gegner“ der Deutschen.

Während EM mit Deutscher Bahn unterwegs: Österreichischer Reporter berichtet von Pannen

Auf der Plattform X machte die Geschichte eines österreichischen Fußball-Reporters die Runde, der zum Spiel nach Düsseldorf wollte, aber in Passau strandete: Streckensperrung. Danach berichtete der Reporter quasi live, wie er nur etappenweise weiterkam: Regensburg, Frankfurt, Köln. In Hanau wurde er zwischenzeitlich abgeführt, weil er die Zugtür für weitere gestrandete Fans offen gehalten hatte. „Die Deutsche Bahn ist so im Oasch“, skandierten österreichische Fans. Das ging auf Youtube viral.

Jeder kennt die Geschichten: verspätetes Personal aus vorheriger Fahrt. Signalstörung. Personen im Gleis. Müsste die Bahn nicht ihre aktuellen Probleme angehen, statt Visionen zu verkünden? Ein Anruf bei Heino Seeger im Achental/Tirol. Seeger ist ein Eisenbahner der alten Schule. Er war früher Chef der Bayerischen Regiobahn, die damals im Oberland BOB hieß. Seeger hat sich in den „Infrastrukturzustands- und -entwicklungsbericht“ für 2023 vertieft, den IZB-Bericht, veröffentlicht von der DB im April 2024. Wer wissen will, wie es um die Bahn wirklich steht, der findet nichts Besseres. Jede Störungsminute, jeder Zwischenfall ist auf 238 Seiten dokumentiert. All das herausgegeben von einem Statistikheer aus der Firmenzentrale der DB AG in Berlin. „Da sitzen Völkerstämme dran“, lästert Seeger.

164.448 Störungen gab es im Netz der Deutschen Bahn im vergangenen Jahr. Dabei muss man differenzieren. Die Zahl der Störungen der Leit- und Sicherungstechnik nimmt ab – denn die Bahn hat das Technik-Problem erkannt. Stellwerke werden modernisiert (im Sommer 2025 endlich auch das neue Stellwerk München-Ost), Signale ausgetauscht. Dafür hakt es an anderer Stelle: Die Zahl der Gleisstörungen nimmt zu. 2019 gab es 3652 dieser Störungen, 2023 indes mit 7312 mehr als doppelt so viele. Das Problem ist, dass die Reparatur von Gleisstörungen viel länger dauert als die Beseitigung von Signalstörungen, die sich meist innerhalb von Stunden beheben lassen. Bei Gleisstörungen muss ein Gleis gesperrt werden, ein Bautrupp anrücken, es gibt Nacht- und Ruhezeiten zu beachten. Oft dauert das Wochen.

Viele Baustellen bei der Deutschen Bahn: Gleise, Brücken, Langsamfahrstellen

Ein Kapitel für sich sind bei den Gleisstörungen die Langsamfahrstellen, also Tempolimits. Sie machen ein Viertel aller Gleisstörungen aus. Jeder Lokführer kennt den LA-Bericht – LA steht für Langsamfahrstellen. Allein im süddeutschen Raum umfasst der Bericht, der täglich neu herauskommt, um die 170 Seiten. Ein Beispiel: Die S4 zwischen Buchenau und Fürstenfeldbruck. Wegen eines abrutschenden Hangs gilt dort über 400 Meter nur Tempo 40. Alle S-Bahnen, aber auch die Regionalzüge, müssen abbremsen. Schleichfahrt im High-Tech-Land Oberbayern.

Im IZB-Bericht werden die Mängel schonungslos offengelegt. Trotz aller Bemühungen wird die Infrastruktur, vor allem Gleise und Brücken, immer älter. Das durchschnittliche Alter der Gleise ist 2023 um im Schnitt 0,3 Jahre gestiegen –  auf jetzt 21,1 Jahre. Zwar werde viel investiert, heißt es im Bericht. „Die Erneuerungsmengen für den Einsatz technisch abgängiger Gleise sind jedoch zu gering, um die steigende Alterung der Gleise vollständig auszubremsen.“

Der Anstieg der Baupreise hat der Bahn zugesetzt. Konnten 2018 für gut eine Milliarde Euro 1500 Kilometer Gleise erneuert werden, so waren es 2023 für fast 2,3 Milliarden Euro nur 2270 Kilometer Gleis. Anders ausgedrückt: Die Sanierung von einem Kilometer Gleis kostete 2018 rund 700 000 Euro, 2023 fast eine Million Euro. Wahr ist: Es wird mehr Geld denn je in die Instandsetzung gesteckt, die Ampel-Bundesregierung überwies der DB allein dafür 2023 fast acht Milliarden Euro, mehr als jede Regierung zuvor – für Schallschutzwände, Weichen, Bahnstromanlagen und eben die Gleise. Ein Teil dieser steigenden Mittel wird aber durch die Inflation aufgefressen.

Bis 2030 werden insgesamt 4000 Kilometer Strecke saniert

Womöglich bringt nun die Sanierung sogenannter Hochleistungskorridore den notwendigen „Turnaround“? 40 Strecken sollen bis 2030 von Grund auf, also auch mit Unterbau und Schotter, saniert werden. Es ist das Prestigeprojekt der Bahn. Am 15. Juli geht es los: Die Riedbahn Mannheim-Frankfurt wird fünf Monate komplett gesperrt, 70 Kilometer neu gebaut. Allein das kostet 1,3 Milliarden Euro. Bis 2030 folgen weitere 40 Korridorstrecken, auch in Bayern, wie etwa München-Salzburg oder Regensburg-Passau. Es kostet Milliarden. Niemand bestreitet, dass das sinnvoll ist. Allerdings: Es werden so bis 2030 insgesamt 4000 Kilometer Strecke saniert, im Schnitt also gut 700 Kilometer pro Jahr. In der Gesamtbilanz dürfte das die Schienenalterung nur wenig bremsen, wenn nicht auch in der Peripherie weiter saniert wird. Es muss also noch mehr Geld in die Sanierung fließen.

Auch das Kapitel über die Bahnbrücken liest sich deprimierend. Die Bahn muss sich um 25.740 Brücken kümmern. Lag das Alter 2018 im Schnitt noch bei 72,5 Jahre, so sind es 2023 schon 75,9 Jahre. Der Anteil der Brücken in der kritischen Kategorie vier („wirtschaftliche Instandsetzung nicht mehr möglich“) beträgt jetzt 4,5 Prozent. Das sind 1158 Brücken!

Noch eine Misere: der Güterverkehr. Vorstandschefin Sigrid Nikutta (Jahresgehalt laut Bilanz: 735.000 Euro) ist auf dem Karriere-Portal LinkedIn mit über 85.000 Followern gut vernetzt. Kaum ein Tag vergeht ohne eine Nikutta-Botschaft, die meist strahlenden Optimismus („Zukunftsfragen sind meine Lieblingsfragen“) versprüht. Die Gegenwart ist allerdings alles andere als rosig: 2023 fuhren durch Deutschland täglich 2267 Züge von DB Cargo, 365 weniger als im Coronajahr 2022. Die Tonnage beförderter Güter deutet auf eine Langzeitkrise: Während DB Cargo 2014 noch 330 Millionen Tonnen beförderte, waren es 2023 nur noch 198 Millionen Tonnen – ein Rückgang um 40 Prozent! Jetzt soll DB Cargo in Unter-Einheiten zerschlagen werden, die Gewerkschaft EVG hat schon massiven Widerstand angekündigt.

Probleme bei der Deutschen Bahn: Seit Corona ist die Pünktlichkeit gesunken

Streiks im Güterverkehr? Das fehlte noch. Die Fahrgäste dürfte aber etwas anderes mehr interessieren: Die Bahn wird, was angesichts der Gleismisere nicht erstaunt, immer unpünktlicher. 2023 waren nur noch 64 Prozent der Fernzüge der DB, im Wesentlichen also die ICE-Flotte, pünktlich. Im Jahr zuvor waren es noch geringfügig mehr, 65,2 Prozent. Bis 2028, so hat DB-Chef Richard Lutz verkündet, soll die Pünktlichkeit wieder auf 80 Prozent steigen. Was er nicht sagt: Dieser Wert war bei der Bahn früher der Normalfall. 2016 erreichte die Pünktlichkeit im Fernverkehr 78,9 Prozent, 2019 (also vor der Corona-Krise) noch 75,9 Prozent. Und dieser Wert wurde erreicht, obwohl damals weit mehr Fahrgäste befördert wurden als heute – 151 Millionen Reisende im ICE gab es 2019, im vergangenen Jahr waren es nur 140 Millionen. An Verzögerungen durch den Fahrgastwechsel, eine öfter zu hörende Ausrede, kann es also nicht liegen.

Unterführung Lindwurmstraße, Baustelle, Sperrung ab 3. Juni, München, Mai 2024 Deutschland, München, Mai 2024, Unterführ
Die Eisenbahnbrücke an der Münchner Lindwurmstraße ist über 100 Jahre alt, die Arbeiten werden bis 2028 dauern. © IMAGO/Wolfgang Maria Weber

Erst Ende September sollen beide Gleise wieder befahrbar sein, sagt eine Bahnsprecherin.

Als wenn das alles nichts wäre, hält DB-Chef Lutz an ehrgeizigen Wachstumszielen fest. Er folgt einer Ansage der Politik, der er eigentlich widersprechen müsste. Im Koalitionsvertrag der Ampel, Seite 39, heißt es, man werde „die Verkehrsleistungen im Personenverkehr“ bis 2030 „verdoppeln“. Das wären gemessen am Vor-Corona-Jahr 2019 rund 300 Millionen in den ICE-Zügen. Heute sind es 140 Millionen. „Wie soll das gehen?“, fragt sich (nicht nur) Heino Seeger.

Es scheint so, als zweifelten selbst die eigenen Mitarbeiter am Erfolg ihres Unternehmens. Die Bahn hat in ihrem „Kulturbarometer“ 12 000 Mitarbeiter befragt. Ernüchterndes Ergebnis: Der Zukunftsoptimismus sei gesunken. „Unsere Strategie Starke Schiene kommt nicht bei allen Beschäftigten an und Erfolge müssen noch spürbarer werden.“

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