„Verlieren wertvolle Zeit“: Experten drängen auf Reform der Schuldenbremse

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Top-Ökonomen fordern eine Überarbeitung der Schuldenbremse. Es bestehe ein „riesiger Handlungsbedarf“, Raum für dringend nötige Investitionen zu schaffen.

Berlin – Finanzminister Christian Lindner (FDP) hält strikt an der seit 2009 im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse fest. Der Druck auf die Regelung jedoch wächst: Führende Ökonomen warnen, dass die aktuellen Regelungen die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands ausbremsen – und fordern eine Überarbeitung. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die Wirtschaftsweisen, fordern eine Reform, um Investitionen möglich zu machen.

Lindner hält an der Schuldenbremse fest, während Top-Ökonomen warnen:  Es besteht „riesiger Handlungsbedarf“, Raum für dringend nötige Investitionen zu schaffen.
Finanzminister Lindner hält an der Schuldenbremse fest, während Top-Ökonomen warnen: Es besteht „riesiger Handlungsbedarf“, Raum für dringend nötige Investitionen zu schaffen. © Bernd von Jutrczenka/dpa

Bremsklotz für die Wirtschaft? Experten fordern Reform der Schuldenbremse

„Wir haben ein riesiges Defizit bei Investitionen in die Infrastruktur, wie den Bau und den Verkehr“, erklärte Björn Kauder vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) am Montag (8. Juli) im Gespräch mit IPPEN.MEDIA: „Deutschland hinkt da weit hinter den skandinavischen und Benelux-Ländern, Österreich und der Schweiz hinterher“.

Es hat sich in den letzten Jahren zu wenig getan, und speziell in den 10er-Jahren, in denen es große Spielräume durch gesunkenen Zinsen gab, sind Investitionschancen verpasst worden.

Die Schuldenbremse beschränkt die Kreditaufnahme des Bundes auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ein und untersagt den Bundesländern neue Schulden. Diese Regeln seien dringend reformbedürftig, betont auch Top-Ökonom Jens Südekum. kritisierte die Schuldenbremse und fordert, Raum zu schaffen für zusätzliche Investitionen.

„Riesiger Handlungsbedarf“: Wirtschaftsexperten fordern Spielraum für Investitionen

„Eine echte Investitionsoffensive ist nicht durch kleine Buchungsoperation innerhalb der Schuldenbremse zu schaffen“. Er gibt zu bedenken: „In den Bereichen Infrastruktur, Investitionen und Transformation besteht ein riesiger Handlungsbedarf, der in den kommenden zehn Jahren im hohen dreistelligen Milliardenbereich liegt. Der Bereich Militär ist da noch nicht mitgerechnet.“ Dafür brauche es eine echte Reform der Schuldenbremse oder die Verankerung eines Sondervermögens im Grundgesetz, „ähnlich wie bei dem für die Bundeswehr.“ Erforderlich sei jedoch eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat, „die Union müsste also mitziehen“.

„Verpasste Chancen“: Investitionen von 600 Milliarden Euro nötig – Schuldenbremse als Hemmschuh

IW-Experte Kauder moniert: „Es hat sich in den letzten Jahren zu wenig getan, und speziell in den 10er-Jahren, in denen es große Spielräume durch gesunkenen Zinsen gab, sind Investitionschancen verpasst worden“. Sein Institut habe gemeinsam mit dem gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in Studien errechnet, dass der notwendige Investitionsbedarf bei inzwischen 600 Milliarden Euro liegt.

In den Bereichen Infrastruktur, Investitionen und Transformation besteht ein riesiger Handlungsbedarf, der in den kommenden zehn Jahren im hohen dreistelligen Milliardenbereich liegt. Der Bereich Militär ist da noch nicht mitgerechnet.

Topökonom fordert „minimalinvasive Eingriffe“ über Sondervermögen oder Nettoinvestitionen

Das Problem sei, dass die starre Schuldenbremse öffentliche Investitionen in die Transformation erschwere – „minimalinvasive“ Eingriffe seien darum dringend erforderlich. Das Institut stehe nicht für die Forderung, die Schuldenbremse abzuschaffen, sondern plädiert für Reformen: „Wir schlagen dafür zwei Wege vor. Zum einen wäre es möglich, die Investitionen über die Bereitstellung eines Sondervermögens ins Grundgesetz zu übernehmen“, erklärt Björn Kauder.

Zum anderen könne die erforderliche Verschuldung auf Nettoinvestitionen beschränkt werden, „also auf Ausgaben, die den Kapitalstock des Bundes, also etwa Gebäude, erhöhen.“ Instandhaltungsinvestitionen müssten jedoch weiter über den Haushalt finanziert werden.

„Deutschland verliert wertvolle Zeit“: Wirtschaftsexperte mahnt Reform der Schuldenbremse an

Ökonom Südekum ist sich sicher: „Diese Reformen werden auch kommen, das zeigen die Signale von Seiten der Ministerpräsidenten der Union recht deutlich“. Aber diese Korrekturen würden „wohl frühestens“ nach der nächsten Wahl passieren, „bis dahin verliert Deutschland wertvolle Zeit.“

Unter der aktuellen Regelung wird mehr gespart, als nötig. Sie ist zu streng und unflexibel.

Dem stimmt auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die sogenannten Wirtschaftsweisen zu: „Es gibt enorme Investitionsbedarfe, und für die Reformen seien Verfassungsänderungen nötig. Das sollte man nicht so lange vor sich herschieben, denn für die notwendige Zweidrittelmehrheit braucht es die demokratische Mitte“, mahnt Ratsmitglied Martin Werding.

„Zukunftsweisende Investitionen“: Wirtschaftsweise empfiehlt Erhöhung des Kreditrahmens

Ebenso wie der Internationale Währungsfonds schlagen die Wirtschaftsweisen vor, mehr Spielraum für neue Schulden zu ermöglichen. Statt der gedeckelten 0,35 Prozent könne der Bund jährlich bis zu 1 Prozent des BIP an neuen Krediten aufnehmen – „für zukunftsorientierte Investitionen, von denen auch die nächste Generation etwas hat“ – also Geld für Infrastruktur und Klimaziele, so Werding gegenüber IPPEN.MEDIA.

„In Abhängigkeit von der Schuldenquote sind diese 1 Prozent bei einer Schuldenquote unter der Maastricht-Grenze, und bis zu 0,5 Prozent bei einer Schuldenquote zwischen 60 und 90 Prozent absolut vertretbar“, erklärt der Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr-Universität Bochum, „unter der aktuellen Regelung wird mehr gespart, als nötig. Sie ist zu streng und unflexibel“, so der Ökonom.

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