Die Europäische Union und die aktuellen Debatten um den Emissionshandel. Ein Trauerspiel, das sich auch so zusammenfassen lässt: Nach Monaten des Trainings wollen die Marathonläufer bei Kilometer 35 abbrechen, weil sie den Lauf jetzt doch in den Knochen spüren. Zumindest beim Emissionshandel 1. Beim Emissionshandel 2 wird schon vor dem Startschuss die Aufregung so groß, dass die Läufer lieber noch mal nach Hause möchten, anstatt loszulaufen.
Aber zurück auf Anfang: Der Emissionshandel, das ist DAS marktwirtschaftliche Instrument für den Klimaschutz – und als solches vor allem vom Markt und marktnahen Parteien als die Lösung proklamiert worden, weil es flexibler sei als feste gesetzliche Vorschriften.
Der lange Marathon des Klimaschutzes
Die Grundidee ist: Unternehmen, die viel CO2 ausstoßen, müssen für diese Verschmutzung Zertifikate kaufen. Die CO2-Bepreisung setzt so einen finanziellen Anreiz für Unternehmen, auf eine klimafreundliche Produktion umzustellen. Im Laufe der Zeit würden dabei immer weniger Zertifikate zur Verfügung stehen, bis irgendwann nichts mehr ausgestoßen werden darf.
Zunächst wurde der Emissionshandel – kurz ETS für Emissions Trading System – 2005 für Unternehmen der Industrie und der Energiebranche eingeführt, das ist der ETS 1. Seither galt es als das zentrale Klimaschutz-Instrument der EU. Nun soll es einen zweiten ETS geben, der auch den Verkehrs- und Gebäudebereich abdeckt.
Das Problem: Der ETS 1 hatte lange Jahre überhaupt keinen Anreiz in der Industrie gesetzt, weniger CO2 auszustoßen, weil die großen Unternehmen für den Großteil ihrer Emissionen kostenlose Zertifikate bekommen haben. Sehr viele Zertifikate. Diese waren auf dem Markt so günstig, dass von ihnen kein Preissignal ausging. Von 2013 bis 2021 wurden Emissionszertifikate im Wert von 98,5 Milliarden Euro kostenlos an die europäische Industrie vergeben. Ohne Auflagen und mit geringen oder gar keinen Auswirkungen auf die Emissionsreduzierung - Geld, das in Klimaschutz hätte investiert werden können.
Diese Fehlkonstruktion hat man versucht, bei der letzten Reform 2021 zu beheben und sich auf 2034 als Auslaufdatum der kostenlosen Zuteilung geeinigt, beginnend mit einer graduellen Absenkung über acht Jahre hinweg. Parallel wird der Grenzausgleichsmechnismus eingeführt, ein neues Instrument der EU, um Unternehmen zu schützen, die im internationalen Wettbewerb stehen. Mit der Reform würde über den CO2-Preis die Lenkungswirkung deutlich verstärkt und Anreize gesetzt für Unternehmen, in eine klimafreundliche Produktion zu investieren.
Emissionshandel in Gefahr: Der Markt liefert, aber jetzt bremst die EU?
Wo wir beim Marathon-Bild oben wären: Denn jetzt möchte man den CO2-Preis von Seiten einiger Unternehmen und auch von Seiten der Bundesregierung doch lieber weiterhin nicht so sehr spüren: Sie setzen sich für die Flexibilisierung des ETS ein. Dabei müssen wir gerade jetzt die Weichen so stellen und Investitionen so lenken, dass die Industrie langfristig wieder erfolgreich wirtschaften kann – und das geht nur über den nachhaltigen Wandel.
Der ETS 1 muss also gerade jetzt, wo er nach fast 20 Jahren anfängt, Wirkung zu entfalten, erhalten bleiben – mitsamt der Verknappung von Zertifikaten. So könnte die EU eine Erfolgsgeschichte schreiben, der auch andere Staaten und Ländern folgen wollen. Denn im Klimaschutz und in der Kreislaufwirtschaft stecken große Chancen für Zukunftstechnologien und -branchen.
Die unfaire Rolle rückwärts für die Fleißigen
Viele Unternehmen haben sich schon auf den Weg gemacht. Eine Rolle rückwärts in der Klima- und Umweltschutzgesetzgebung würde sie unfairerweise hart treffen, während es die langsamsten Läufer übermäßig belohnt. Umso wichtiger ist es, dass auch diese sich in den Debatten nun laut äußern und Gehör finden. Was es nun vor allem braucht, ist Klarheit über den Weg nach vorne, um Planungssicherheit und langfristiges Wohlergehen der europäischen Industrie zu sichern.
Dafür ist die Abkehr von fossilen Brennstoffen wo immer möglich unabdingbar, denn sie sind mit massiven Kosten verbunden – wirtschaftlich wie gesellschaftlich. Von geopolitischen Risiken wie Importabhängigkeiten und volatilen Preisen ganz zu schweigen. Und dafür braucht es Investitionen, die in der Vergangenheit auf die lange Bank geschoben wurden. Diese Investitionen sind nötig, um die Elektrifizierung und den Hochlauf etwa von Wasserstoff auf Basis Erneuerbarer in der Industrie anzuregen und auch Technologien der Kreislaufwirtschaft in die Breite zu tragen. Wir verfügen über die Lösungen, es geht nun um ihre Anwendung.
Verbraucher müssen bei Klimawende geschützt werden
Im ETS 2 öffnet sich noch ein weiterer Schauplatz: Denn hier spüren die Preise nicht in erster Linie nur Unternehmen, sondern auch die Verbraucher, die ihre Autos tanken oder ihre Wohnung heizen. Aber warum?
Weil sowohl im Verkehrs- als auch im Gebäudebereich bislang so wenig Klimaschutz umgesetzt und auf nicht-fossile Lösungen wie E-Autos oder Wärmepumpen gesetzt wurde, dass die beiden Sektoren nun auf dicken Batzen von CO2-Emissionen sitzen, deren Kosten nun dreifach auf die Menschen zurückfallen: mit den Folgen für die Erderhitzung, an der Zapfsäule und am Thermostat. So darf es sicher nicht kommen. Aber genau deshalb brauchen wir die Anreize für besseren Klimaschutz auch und gerade im Verkehrs- und Gebäudebereich – und das auch über den ETS 2. Dieser darf nicht alleinstehen.
Begleitet werden muss er von Maßnahmen wie einem stark vergünstigten ÖPNV, Leasingunterstützung für Elektroautos, einer sozial gestaffelten Heizungsförderung und gezielter Sanierungsförderung, um gerade Menschen mit geringem Einkommen zu unterstützen und ihnen zu ermöglichen, aus der fossilen Kostenfalle zu gelangen. Das gilt auch für Mieter.
Stattdessen aber gerade solche Maßnahmen etwa über die Abschaffung des "Heizungsgesetzes” kassieren zu wollen, ist sozial ungerecht und klimapolitisch unverantwortlich. Denn beide Sektoren schaffen seit Jahren nicht, auf den notwendigen Klimaschutzkurs zu kommen.
Die Preissignale aus dem ETS 2 schon vor Einführung größtmöglich abdämpfen zu wollen, würde hingegen die Wirkungslogik des Instruments konterkarieren. Die Einführung zu verschieben, schiebt wie schon beim ETS 1 nur die nötigen Veränderungen auf die lange Bank. Der Markt regelt dann eben doch nicht. Folge: Klimaschutz und Schutz vor fossilen Kostenfallen fallen hinten runter, während gleichzeitig andere Klimainstrumente kassiert werden sollen.
Klarheit statt Schlingerkurs: So kann der Markt Klimaschutz liefern
Deutschland trägt in diesem Zusammenhang eine besondere Verantwortung für Europa. Mit seinem hohen Anteil der EU-Emissionen im Gebäude- und Verkehrsbereich beeinflusst es maßgeblich, wie teuer der CO2-Preis für ganz Europa wird. Denn auch hier greift das simple Prinzip: Angebot und Nachfrage. Mehr Klimaschutz in Deutschland senkt die Nachfrage nach Zertifikaten im europäischen Markt, wodurch die Kosten für ganz Europa gesenkt werden. In Deutschland haben wir seit einigen Jahren bereits eine solche CO2-Bepreisung, deshalb hatte sich die Bundesregierung dafür eingesetzt, die Bepreisung auf ganz Europa auszudehnen - das ist der ETS 2.
Um die Klimawirkung des ETS 2 in Deutschland zu sichern, ist es deshalb wichtig, bei der Einführung einen nationalen Mindestpreis für CO2 zu vereinbaren. Ohne eine solche Untergrenze besteht die Gefahr, dass der neue europaweite Preis unter dem schon existierenden nationalen Preis von derzeit 55 Euro pro Tonne liegt. Damit ginge das Preissignal verloren, ergo: weniger Emissionseinsparungen. Das Gegenteil, von dem, was ein Marktinstrument erreichen sollte.
Letztlich gilt auch beim ETS 2: Es muss Kurs gewahrt werden, um den Menschen und Unternehmen Planungssicherheit zu geben und uns zukunftsfest aufzustellen. Nur mit dem schnellen klimafreundlichen Umbau aller Sektoren lassen sich die Folgen der Klimakrise wirksam begrenzen und gleichzeitig die Abhängigkeit von fossilen Energien überwinden. Statt die Handelssysteme in ihrer Wirkung zu beschneiden, braucht es stattdessen die passenden Begleitmaßnahmen, die den dringend nötigen Wandel für alle bezahlbar machen.
Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung trägt den Titel “Verantwortung für Deutschland”. Das würde bedeuten, Klarheit zu schaffen zu dem, was klimapolitisch und gesellschaftlich geboten ist. Verschiebungen, Abschaffungen, ein ständiges Hin und Her bei wichtigen Instrumenten sind das Gegenteil von zukunftsfähiger und verantwortungsvoller Politik. Zukunftsbranchen unserer Wirtschaft werden verunsichert, Unmut in der Bevölkerung entsteht. Wir brauchen Klimaschutz als Leitmotiv wirtschaftlicher Politik. Und wie beim echten Marathon gilt: Wir brauchen Durchhaltevermögen statt Schlingerkurs.
Viviane Raddatz, Leiterin Klima und Energie beim WWF Deutschland, setzt sich für wirksame Klimapolitik und die nachhaltige Transformation von Wirtschaft und Energieversorgung ein. Sie ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen ihre persönliche Auffassung auf Basis ihrer individuellen Expertise dar.