Bald 100.000 Nordkorea-Soldaten im Ukraine-Krieg? „Das halte ich durchaus für möglich“

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„Nordkorea ist zu einem entscheidenden Faktor im Ukraine-Krieg geworden“, sagt die Korea-Expertin Rachel Minyoung Lee im Interview.

In Südkorea ruft der Präsident das Kriegsrecht aus, Nordkorea schickt derweil Tausende Soldaten in den Ukraine-Krieg: Die Lage auf der koreanischen Halbinsel ist so angespannt wie lange nicht mehr. Im Interview erklärt die Korea-Expertin Rachel Minyoung Lee, was hinter beiden Vorgängen steckt.

Frau Lee, mit etwas zeitlichem Abstand: Können Sie sich erklären, was da in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in Südkorea passiert ist?

Als ich am Dienstag die Worte „Kriegsrecht“ und „Korea“ gehört habe, war mein erster Gedanke: Kim Jong-un in Nordkorea hat das Kriegsrecht ausgerufen. Aber nein, es war in Südkorea! Ich war total schockiert. Natürlich kann ich die Frustration von Präsident Yoon Suk-yeol verstehen: Das Parlament wird von der Opposition kontrolliert, und sie haben viele Gesetzesentwürfe blockiert, unter anderem den Haushalt für das nächste Jahr. Aber Südkorea ist eine Demokratie, da löst man Konflikte anders.

Was bedeuten die Ereignisse für die Demokratie in Südkorea?

Verglichen mit vielen westlichen Staaten ist Südkorea eine noch junge Demokratie. Und dennoch zeigen die Ereignisse für mich, dass sie sehr resilient ist – denn am Ende hat die Demokratie diese Krise überstanden.

Zur Person

Rachel Minyoung Lee ist Korea-Expertin bei der US-Denkfabrik Stimson Center. Von 2000 bis 2019 hat sie die US-Regierung in Korea-Fragen beraten.

Rachel Minyoung Lee
Rachel Minyoung Lee © Stimson Center

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Yoon zurücktreten wird“

Allerdings nicht unbeschadet.

Es wurde kein Blut vergossen, es kam nicht zu wirklicher Gewalt. Dennoch hat der Ruf Südkoreas Schaden genommen. Die Yoon-Regierung wollte die Rolle Südkoreas in der Welt stärken, das Land sollte eine aktivere Rolle bei Themen wie Klimawandel und Menschenrechten einnehmen. Da ist ein angeschlagenes Image sicherlich nicht förderlich. Aus Sicht der USA, dem engsten Verbündeten Südkoreas, stellt sich zudem die Frage, wie verlässlich das Land noch ist. Seit dem vergangenen Jahr arbeiten Washington und Seoul auch in Fragen der nuklearen Abschreckung enger zusammen, da ist Verlässlichkeit entscheidend.

Wie geht es nun mit Präsident Yoon weiter?

Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Yoon zurücktreten wird. Und für ein Amtsenthebungsverfahren braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Die Opposition ist also auf Stimmen aus der Regierungspartei angewiesen. Wenn Yoon aber im Amt bleibt, dann ohne jegliche Autorität. Die hat er durch die Ausrufung des Kriegsrechts verloren.

Die ganze Welt hat diese Woche über die Vorgänge in Seoul berichtet. Nur Nordkorea schweigt.

Es ist schon seltsam: Yoon Suk-yeol ist wegen seiner harten Linie gegenüber Nordkorea in Pjöngjang regelrecht verhasst; seit Mai 2023 haben nordkoreanische Medien regelmäßig über südkoreanische Bürgerinitiativen berichtet, die Yoon zum Rücktritt aufgefordert haben. Und dennoch hat Nordkorea bislang überhaupt nicht auf die Vorgänge reagiert.

Wie erklären Sie sich das?

Ich denke, man kann die Vorgänge von Dienstag auch als Putschversuch betrachten. Nicht als gewöhnlichen Putsch zwar, bei dem jemand versucht, den Präsidenten zu stürzen. Aber dennoch: Die Idee eines Putsches an sich ist in einer Diktatur wie Nordkorea natürlich ein sehr heikles Thema.

Nordkoreanische Soldaten während einer Militärparade (Archivbild).
Nordkoreanische Soldaten während einer Militärparade (Archivbild). © KCNA/AFP

„Kim Jong-un hat das Ziel einer friedlichen Vereinigung mit Südkorea aufgegeben“

Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern haben sich zuletzt deutlich verschlechtert, Kim Jong-un hat Südkorea vor einiger Zeit zum feindlichen Staat erklärt. Wie ernst muss man das nehmen?

Das ist mehr als nur Rhetorik. Kim Jong-un hat das Ziel einer friedlichen Vereinigung mit Südkorea aufgegeben und damit auch das Erbe seines Großvaters, Staatsgründer Kim Il-sung. Das Konzept einer friedlichen Vereinigung mit dem Süden war im Leben der Nordkoreaner bislang ständig präsent, in Liedern, in der Schule, überall. Und jetzt sagt Kim Jong-un den Menschen auf einmal, dass das, was ihr ganzes Leben lang Priorität hatte, mehr gilt. Das muss sehr verwirrend für die Menschen in Nordkorea sein.

Warum macht Kim das?

Eine mögliche Erklärung ist, dass sich das nordkoreanische Regime vom kulturellen Einfluss aus dem Süden bedroht fühlt. In den letzten Jahren hat Nordkorea mehrere Gesetze erlassen, die Konsum und Verbreitung von südkoreanischer Kultur unter Strafe stellen. Indem Kim nun sagt, dass eine Vereinigung mit dem Süden kein Ziel mehr ist, hofft er, dass auch das Interesse an der südkoreanischen Kultur zurückgeht. Eine weitere Erklärung hängt mit der neuen Nukleardoktrin Nordkoreas zusammen.

Seit September 2022 behält sich Nordkorea die Möglichkeit eines präventiven Nukleareinsatzes gegen Südkorea vor.

Genau. Und so ein Schritt lässt sich nur rechtfertigen, wenn man sagt: Nord- und Südkorea sind nicht mehr Teil derselben Nation, keine Brüder und Schwestern mehr. Ich denke auch, dass seine Beziehungen zu Russland Kim Jong-un definitiv mehr Selbstvertrauen gegeben haben, einen solchen Schritt zu gehen.

„Russland betrachtet Nordkorea als sehr kleinen Junior-Partner“

Wie würden Sie die Beziehungen zwischen Nordkorea und Russland beschreiben? Treffen da zwei gleichberechtigte Partner aufeinander?

Ich denke, Russland betrachtet Nordkorea als sehr kleinen Junior-Partner, auch wenn sie natürlich nicht wollen, dass sich Nordkorea so fühlt. Nordkorea hingegen sieht sich als ebenbürtig mit Russland. Und tatsächlich ist Nordkorea ja zu einem wichtigen Akteur auf der Weltbühne geworden, wenn auch nicht auf eine gute Art und Weise.

Wie wird sich die Beziehung zwischen Nordkorea und Russland entwickeln? Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj glaubt, dass Nordkorea bis zu 100.000 Soldaten in den Krieg gegen sein Land schicken könnte.

Das halte ich durchaus für möglich. Nordkorea ist zu einem entscheidenden Faktor im Ukraine-Krieg geworden.

Noch kämpfen nordkoreanische Soldaten offenbar nur in der russischen Region Kursk. Könnten sie auch auf dem Gebiet der Ukraine eingesetzt werden?

Ich würde zu diesem Zeitpunkt nichts ausschließen. Jedes Mal, wenn es Spekulationen darüber gab, ob Nordkorea dies oder jenes tun könnte, haben Experten gesagt: Nein, das wird nicht passieren. Vor drei Jahren hätten wir uns nicht vorstellen können, dass Nordkorea Waffen, geschweige denn Menschen in den Krieg schicken würde. Und doch ist es passiert.

Was erhofft sich Kim von der Zusammenarbeit mit Wladimir Putin?

Die Zusammenarbeit mit Moskau bringt dem Regime Devisen, Russland liefert zudem Öl, Getreide und wahrscheinlich auch Militär- und Nukleartechnologie. Nordkorea stellt sein Bündnis mit Russland als gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus dar, also als gemeinsame Anstrengung zur Schaffung einer globalen Ordnung, die angeblich auf Unabhängigkeit und Gerechtigkeit beruht. Für Kim Jong-un ist die Beziehung zu Russland von langfristiger, strategischer Bedeutung.

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