„Wir stecken tief in der Schei**e“: Top-Militär aus Belgien schlägt Alarm wegen Munitionsknappheit
Der Ukraine-Krieg hat die Munitionsbestände in ganz Europa ausgeschöpft. Nachschub ist dringend erforderlich. Ein ehemaliger Top-Militär warnt, dass auch Gegner von der Knappheit wissen.
Berlin – Der Ukraine-Krieg dauert seit mehr als zwei Jahren an. Aussichten auf ein Ende gibt es nicht. Einiges deutet darauf hin, dass Kreml-Chef Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine die Welt das gesamte Jahr 2024 über begleiten wird. Damit sich die Ukraine effektiv verteidigen kann, braucht das Land Waffen und Munition, doch gerade hier hakt es. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert mehr Hilfe, doch die Bestände in Europa und sogar in den USA sind massiv ausgedünnt.
Munitionsknappheit in Europa: „Bestände sind extrem niedrig“
Marc Thys, Generalleutnant im Ruhestand und ehemaliger Vice-Chef de la Défense der belgischen Streitkräfte, hat nun Alarm geschlagen – erneut. Denn zuvor hatte er bereits gesagt: „Nach ein paar Stunden müssten wir schon Steine werfen.“ Gegenüber dem Bayerischen Rundfunk (BR) betonte er jetzt, das sei kein Witz gewesen. „Gerade bei hochwertiger Munition sind die Bestände extrem niedrig“, so Thys. Sie wieder aufzufüllen ist aber offenbar nicht einfach. Man müsse Lieferzeiten bedenken.
„Wenn man heute bestellt, dauert es bei manchen Munitionsarten bis zu sieben Jahren, bis man seine Bestellung erhält. Selbst bei der einfachsten Kleinkalibermunition 5.56, ein Nato-Standard. Wenn wir heute den Vertrag unterzeichnen, dauert es zwölf Monate, bis man seine Munition bekommt“, erklärte Thys. Ein Problem nicht nur für die Ukraine, sondern die gesamte Nato, wo es laut Thys Unterschiede zwischen Staaten gibt.
Ex-Militär alarmiert: „Und plötzlich befinden wir uns wieder in einer Zeit der offenen Kriege“
Mit Blick auf die Konsequenzen dieser Munitionsknappheit unterstrich der Ex-Militär: „Wir stecken da schon tief in der Scheiße. Das ist ein Haufen Arbeit für uns.“ Die Knappheit erstrecke sich schließlich auch auf Waffensysteme. Geht es nach Thys, ist sich nicht nur der Westen über den Mangel bei Waffen und Munition bewusst, sondern auch dessen Gegner: „Du kannst sicher sein, dass unsere Gegner, ob sie jetzt in Moskau sitzen oder in Beijing oder sonst wo auf der Welt, sie wissen von der Munitionsknappheit.“
Wie kann es aber sein, dass die EU oder die Nato mit dutzenden Mitgliedsländern, die eine gewisse wirtschaftliche Stärke und das Zeug zur Massenproduktion haben, an Munitionsmangel leidet? Thys identifiziert eine klare Ursache: „Unsere Armeen sind auf Expeditionseinsätze ausgelegt. Das sind kleine Kontingente mit wenig Logistik und sehr geringem Munitionsverbrauch, wenn überhaupt. Und plötzlich befinden wir uns wieder in einer Zeit der offenen Kriege.“ Heute seien erneut alle Bestandteile eines Militärs herausgefordert, inklusive Munition und Logistik.
Auch zur Lage der Bundeswehr äußerte sich Thys gegenüber dem BR. „Ich weiß, Deutschland hatte Ende der 1980er etwa 5000 Panzer. Heute hat Deutschland zwischen 200 und 300. Ich sage nicht, die Bundeswehr muss wieder zurück zu den 5000, aber diese Lücke ist schon enorm“, urteilte er.
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Belgischer Top-Militär wirbt für Mentalitätswandel in Europa: Bessere Verteidigungsindustrie nötig
Auch um die Zeitenwende von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) umsetzen zu können, müsse es einen Mentalitätswandel geben, so Thys: „Das Geld ist da, aber der echte Wandel muss zwischen den Ohren passieren, die Mentalität.“ Geht es nach dem Ex-Militär, so ist eine veränderte Wahrnehmung erforderlich. „Sicherheit kostet etwas. Das müssen wir wieder lernen. Viele haben geglaubt, das ist vom Himmel herabgefallen und wird sich nie ändern“, erklärte er. Die Gesellschaft müsse bereit sein, ihren Wohlstand zu verteidigen.
Einen Wandel forderte er auch im Punkt Verteidigungsindustrie. „Es ist einfach nicht viel passiert industriell“, betonte Thys und mahnte: „Wir müssen die Rüstungs- und Verteidigungsindustrie wieder aufpeppen.“ Thys beschwerte sich, dass die Rüstungsindustrie wie jeder andere kommerzielle Sektor betrachtet werde: „Das heißt, das Risiko liegt komplett bei den Unternehmen. Und das muss sich ändern, dieses Risiko müssen Regierungen, muss die Europäische Union tragen.“
Thys will jedenfalls stärkeren Einsatz für positive Veränderungen in Europa sehen: „Wenn Du Europa politisch ändern willst, muss das Messer an der Kehle sein und das Blut schon tropfen, dann fangen die Dinge an, sich zu ändern.“
Herausforderungen, aber auch vorsichtiger Optimismus: EU muss Wehrhaftigkeit verbessern
Der von Thys geforderte stärkere Einsatz dürfte sich aber noch verzögern, etwa weil der ehemalige US-Präsident Donald Trump bei den Wahlen im November 2024 eine zweite Amtszeit sichern könnte. Der Republikaner gilt beim parteiinternen Rennen gegen Nikki Haley als Favorit und liegt in Umfragen hauchdünn vor Amtsinhaber Joe Biden. Er könnte zu einer neuen Herausforderung werden, denn mit seinen rücksichtslosen Aussagen und seinem fragwürdigen Verhalten in der Nato sorgt er für Besorgnis. Immer wieder heißt es etwa von ihm und seinem Umfeld, vielleicht müssten die USA das Bündnis verlassen. Für die Wehrhaftigkeit des Westens wäre dies ein schwerer Schlag.
Immerhin gibt es aber auch Grund zum vorsichtigen Optimismus. Denn in Europa realisieren Entscheidungsträger, dass mehr getan werden muss. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) rechnet etwa nach eigener Aussage damit, dass in den kommenden Jahren Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht ausreichen werden. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sprach sich für einen europäischen Verteidigungskommissar aus und kündigte eine Strategie für eine gemeinsame europäische Verteidigungsindustrie an. (bb)