Hauptschlag-Strategie: Die Kertsch-Brücke muss fallen – doch Russland hat eine Alternative
Hauptschlag-Strategie: Die Kertsch-Brücke soll fallen – doch Russland hat eine Alternative
Die besetzte Krim ist Dauerziel ukrainischer Angriffe. Weil Russland um seine Kertsch-Brücke fürchtet, nimmt es eine neue Eisenbahnlinie in Betrieb.
Kertsch – Die von Wladimir Putin besetzte Krim steht seit der Bewilligung des neuen US-Waffenpakets für die Ukraine unter Dauerbeschuss: Weitreichende ATACMS-Raketen mit Streumunition sowie mit Sprengstoff beladene Drohnen gehen auf russische Flugabwehrstellungen, Luftwaffenbasen und Marineschiffe nieder. Das Ziel der Armee von Präsident Wolodymyr Selenskyj ist, die Halbinsel im Ukraine-Krieg zu einer Belastung für ihre Besatzer zu machen. Die Kertsch-Brücke in die Fluten des Schwarzen Meeres stürzen zu lassen und die Krim vom russischen Festland abzuschneiden, würde sie dabei einen entscheidenden Schritt voranbringen.
Das weiß Russland und bereitet sich mit einer neuen Eisenbahnlinie so gut wie möglich darauf vor. Die Strecke verläuft entlang dem Asowschen Meer, von Rostow am Don durch die besetzten südukrainischen Städte Mariupol und Berdjansk hindurch bis auf die Krim – und soll jüngst in Betrieb genommen worden sein. Dmytro Pletenchuk, ein Sprecher des ukrainischen Militärs, kommentierte die russischen Anstrengungen gegenüber dem britischen Economist: „Die Eisenbahn entlang des Landkorridors ist ein Eingeständnis der russischen Besatzer, dass die Brücke über die Krim dem Untergang geweiht ist.“ Sie suchten „nach einer Möglichkeit, sich abzusichern, weil sie wissen, dass sie früher oder später ein Problem haben werden“, so Pletenchuk weiter.
Russische Eisenbahnlinie durch besetzte Ukraine soll Kertsch-Brücke ersetzen
Die ukrainische Offensive im vergangenen Sommer sollte die festgefahrene Front im südlichen Oblast Saporischschja durchstoßen, das von Russland zur Festung ausgebaute Tokmak befreien und von dort bis zur Küste des Asowschen Meeres vordringen, um die russischen Besatzungstruppen auf der Krim abzuschneiden. Dieses Vorhaben ist gescheitert, sodass nun die neue Eisenbahnlinie ungehindert die Krim erreichen kann.
Die strategischen Ziele der Ukrainer haben sich jedoch nicht geändert. Ben Hodges, ehemaliger Oberkommandierender der US-Truppen in Europa und jetzt hochrangiger Berater der Nato in Logistikfragen, sagte dem britischen Economist, die Ukrainer seien „systematisch dabei, die Ukraine für russische Streitkräfte unbewohnbar zu machen“. Im Fokus ihrer Bemühungen steht dabei die Krim, die den Russen bisher als „unsinkbarer Flugzeugträger“ diene, „der Drohnen und Flugzeuge starten lässt und ihren Streitkräften in der Südukraine logistische Unterstützung liefert“, so Hodges gegenüber Radio Free Europe.
Ukraine greift Kertsch-Brücke an
Eine amphibische Invasion der Halbinsel mit Landungstruppen scheint für die Ukrainer mangels entsprechender Kapazitäten und im Angesicht starker russischer Verteidigungsstellungen kaum möglich. Deswegen konzentriert sich die Armee des überfallenen Landes darauf, es den Russen auf der Krim aus der Entfernung so unbequem wie möglich zu machen. Ein wichtiger Ansatzpunkt für diese Strategie ist die Kertsch-Brücke, die einzige direkte Verbindung von der Halbinsel zum russischen Festland.
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Die Eisenbahn entlang des Landkorridors ist ein Eingeständnis der russischen Besatzer, dass die Brücke über die Krim dem Untergang geweiht ist.
Sie wurde bereits zweimal empfindlich, aber nicht nachhaltig getroffen. Im Oktober 2022 soll es eine an Bord eines Lastwagens geschmuggelte Bombe gewesen sein, die Teile des Baus in die Straße von Kertsch stürzen ließ. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU übernahm die Verantwortung für eine Attacke mit „Sea Baby“-Seedrohnen im vergangenen Juli, in deren Folge ein Teil der Fahrbahn vorübergehend absackte.
Russland nutzt die Kertsch-Brücke inzwischen nicht mehr zum Waffentransport
Es gelang den russischen Truppen jedoch stets, die Brücke wieder instand zu setzen, um einerseits den zivilen Verkehr zwischen dem russischen Festland und der besetzten Krim und andererseits die Versorgung der Invasionstruppen auf dem ukrainischen Festland zu gewährleisten. Nun zeitigte der konstante Druck ukrainischer Angriffe erste Erfolge, ohne die Kertsch-Brücke schon zerstört zu haben.
Vasyl Maliuk, der Leiter des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU, erklärte Ende März gegenüber der ukrainischen Nachrichtenagentur Interfax, dass Russland die Krim-Brücke bereits nicht mehr nutze, um die eigenen Streitkräfte mit Waffen und Munition zu versorgen.
Ukraine will Brücke noch vor Mitte 2024 zerstören
US-General Hodges zeigte sich gegenüber dem Economist davon überzeugt, dass die Ukrainer „die Kertsch-Brücke zerstören, wenn sie bereit sind“ – und das könnte sehr bald der Fall sein: „Wir werden es in der ersten Hälfte von 2024 tun“, sagte ein Mitarbeiter des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR dem britischen Guardian im April. Man habe bereits „die meisten Mittel, um dieses Ziel zu erreichen“, so der Geheimdienstoffizier damals.
Generalmajor Vadym Skybytskyi, der stellvertretende HUR-Chef, erläuterte gegenüber dem Guardian darüber hinaus, dass ein Angriff auf die Kertsch-Brücke mit dem militärischen Hauptschlag-Konzept konform sei, einer NATO-Standard-Prozedur. Dabei mache man sorgfältig einige wenige, hochwertige Ziele ausfindig und eliminiere sie, um überproportionale Ergebnisse zu erzielen. Diesem Konzept scheint die Ukraine auch insbesondere bei der Zerstörung der wertvollen russischen S-400-Luftabwehrsysteme auf der Krim zu folgen. (Michael Kister)