Die Anti-Abriss-Agenda für Deutschland: Warum unsere Gebäude stehenbleiben müssen

Wir sehen es jeden Tag in unseren Innenstädten, Bezirken und Gewerbegebieten: Dort wo Bürogebäude, Wohnhäuser oder große Lagerhalle jahrzehntelang standen, machen sich Bagger und Kräne für den Abriss bereit. Wo gestern ein Gebäude stand, ist heute nur noch eine abgesperrte Baulücke voller Schutt übrig. 

Oftmals sind der Abriss und Neubau eines Gebäudes schlicht kostengünstiger als eine Sanierung. Was dabei oft vergessen wird: Die Kosten für die Umwelt sind ungemein höher.

Eine schwere Hypothek für Klima und Umwelt

Beim Abriss werden die in einem Gebäude gebundenen, sogenannten „grauen Emissionen“ vollständig freigesetzt. Beton, Stahl und Glas gehören zu den ressourcenintensivsten Baustoffen überhaupt. Ihre Produktion ist energieaufwändig, die Entsorgung von Abbruchmaterialien problematisch.

Was das in konkreten Zahlen bedeutet: Für die Herstellung einer für den Neubau gebrauchten Tonne Zement entsteht auch jeweils eine Tonne Kohlendioxid. Zum Vergleich: Um eine Tonne CO2 freizusetzen, muss ein Benzin-Pkw 3.300 Kilometer zurücklegen.

Wer abreißt und neu baut, vernichtet also nicht nur Substanz und schafft klaffende Wunden in unseren Stadtbildern, sondern belastet auch unser Ökosystem. Eine verpflichtende Ökobilanzprüfung oder eine klimabezogene Genehmigung vor Abriss wären ein Fortschritt. Insofern muss eine stärkere Regulierung her.

Der politische Wind dreht sich

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Bestandserhaltung in den letzten Jahren kräftige Unterstützung von politischer Seite erlebt. Bauen im Bestand und Sanieren von bestehenden Gebäudekomplexen wird durch zahlreiche Maßnahmen unterstützt.

  1. Green Deal der EU: Die Sanierungsrate in der EU soll bis 2030 verdoppelt werden. Zirkuläre Bauweisen („Circular Construction“) zur Reduzierung von Abfall und Ressourcenverbrauch werden ebenfalls gefördert.
  2. EU-Gebäuderichtlinie: Bis 2050 soll der gesamte Gebäudebestand der EU klimaneutral sein. Dafür werden Milliarden Euro für Investitionen in die Hand genommen. Die 15 Prozent der Gebäude im schlechtesten energetischen Zustand des jeweiligen EU-Landes bekommen Vorrang. Sanierung vom Bestand wird zum zentralen Hebel der Umsetzung.
  3. REPowerEU: Gebäudesanierungen sollen fossile Abhängigkeiten reduzieren. Insbesondere durch die stärkere Integration von Wärmepumpen, Solarenergie und Dämmmaßnahmen. Damit soll auch verhindert werden, dass Immobilien mit schlechtem Energiezustand zu „Stranded Assets“ werden.
  4. Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG): Diese unterstützt Maßnahmen in puncto Fenstertausch, Heizungsmodernisierung oder Effizienzhaus-Standards. Zuschüsse und zinsgünstige Kredite senken die Investitionshürde für Unternehmen und Eigentümer gleichermaßen.

Diese und weitere Maßnahmenpaketen richten den Fokus der Regulatorik in Deutschland und europaweit aus. Gebäudesanierungen bekommen immer mehr Rückenwind und werden zur Norm.

Der Wandel ist schon da

Revitalisierungskonzepte verfolgen in der Praxis einen ganzheitlichen Ansatz. Sie greifen deutlich tiefer als einzelne Sanierungsmaßnahmen. Ziel ist es, vorhandene Ressourcen in und an der Immobilie zu nutzen, Gebäude langfristig an moderne Nutzungsanforderungen anzupassen und gleichzeitig den CO2-Ausstoß wirksam zu senken.

Die Konzepte müssen zudem so intelligent sein, dass die baulichen Anlagen auch in zwanzig Jahren ressourcenschonend wieder verändert werden können. Wirtschaftlich findet bereits ein Wandel statt. Erkennbar mehr Unternehmen nutzen den Wert vorhandener Gebäude und Materialien. Technische, städtebauliche und soziale Faktoren werden so harmonisiert.

Je nach Ausgangssituation können unterschiedliche Prioritäten durchgesetzt werden:

Priorität 1: Behutsame Sanierung

Die Gebäude werden saniert, die baulichen Gegebenheiten und Strukturen weitestgehend erhalten und die Effizienz gesteigert.

Priorität 2: Hybridbauten

Die Sanierung wird mit Neubauelementen kombiniert, die das Gebäude ergänzen oder erweitern und nachverdichten.

Priorität 3: Abriss und Neubau

Diese Schritte erfolgen, wenn das Bestandsobjekt technisch oder wirtschaftlich nicht mehr tragfähig ist.

Was Deutschland jetzt braucht, ist ein echter Wandel im Baurecht. Weg von einer linearen Logik, hin zu einem zirkulären Denken. Umbauordnungen, vereinfachte Genehmigungsverfahren für Revitalisierungen, und eine stärkere ESG-Auslegung von Bauvorschriften könnten innerhalb weniger Monate enorme Wirkungen entfalten.

Die Silo-Zeiten sind vorbei

Ein erfolgreicher Wandel im Gebäudebestand erfordert abschließend interdisziplinäres Denken: Architekten, Ingenieure, Ökonomen und Umweltplaner müssen gemeinsam Lösungen entwickeln. Die Zeiten des Silo-Denkens sind endgültig vorbei.

Die Revitalisierung ist daher kein nostalgischer Akt, sondern eine strategische Entscheidung: Sie verbindet Klimaschutz mit wirtschaftlichem Denken und schafft die Grundlage für resiliente Städte. Wenn Deutschland seine Klimaziele erreichen will, darf es nicht länger darum gehen, alte Mauern einzureißen. Sondern darum, in ihnen die Zukunft zu bauen.

Ulrike Rennemüller ist seit 2024 Geschäftsführerin von Arup Deutschland, einem weltweit führenden Planungs- und Beratungsunternehmen in Architektur, Bau und Ingenieurwesen mit renommierten Projekten wie dem Commerzbank-Tower und dem Futurium. Sie ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen ihre persönliche Auffassung auf Basis ihrer individuellen Expertise dar.