Bundeskanzler Merz hat mit seiner Aussage zum „Stadtbild“ eine heftige Diskussion ausgelöst, aus der wir einiges lernen können. Was Friedrich Merz in unseren Städten sieht, scheint ihm und seinen Töchtern nicht zu gefallen. Es wurde sicherlich schon erwähnt, dass es nicht nur um das „Bild“ geht, das man oberflächlich betrachten und beklagen kann, sondern vor allem um die Prozesse, die zu ihm führen.
Kalt, gerade und glatt
In vielen unserer Städte sehe ich nicht nur „Bilder“, sondern die Folgen gesellschaftlicher, baulicher, planerischer und auch ökologischer Fehlentwicklungen. Ich sehe Orte, an denen es ungerecht zugeht, an denen Integration scheitert oder nicht mehr gewollt ist, an denen Menschen verloren gehen und zum Herumlungern gezwungen sind. Öffentliche Räume, in denen man sich wohlfühlt, sind knapp. Vermüllte Plätze und eine heruntergekommene Infrastruktur sehen nicht gut aus – genauso wenig wie Hass, Armut und Verzweiflung.
Ich blicke auf verlärmte, menschenfeindliche Betonlandschaften, die für Automobile und Architekten geschaffen wurden. Ich schaue auf miserable Reste von Natur, auf kanalisierte Gewässer und schwindende Bäume.
Ratlos gehe ich durch Neubausiedlungen mit kleinen, verschotterten oder versiegelten Vorgärten auf ehemaligen Ackerflächen. In diesen Siedlungen sind keine Begegnungsräume, keine Grünflächen oder Plätze zum Spielen und Verweilen vorgesehen. Ich betrachte seelenlose Gewerbegebiete und Parkplatzlandschaften an Stadträndern, die sich praktisch überall befinden könnten und dem Land seine Identität rauben.
Zu viele Bereiche unserer Siedlungen sind kalt, gerade und glatt. Sie bieten – nicht nur im Herbst – eine ungenügende Lebensqualität. Gleichzeitig heizen sie sich an warmen Tagen auf und belasten Menschen und Restnatur, weil ihnen Gebiete zur Frischluftentstehung und Kühlungsachsen fehlen. Ebenso fehlen Böden, in denen Wasser versickern kann, sowie artenreiche Ökosysteme für Insekten, Vögel und andere Organismen. Oftmals ist alles weg.
Ich habe ein Problem mit dem „Stadtbild“, aber auch mit dem „Landbild“.
Der „Terrorismus der geraden Linie“
Wenn wir durch Deutschland reisen, sehen wir die Logistikzentren an den Autobahnen und die allgegenwärtige Verkehrsinfrastruktur. Es wirkt, als hätten wir zu viele fruchtbare Böden. Viele Landschaften sind ausgeräumt. Sie haben ihre Hecken, Gehölze und Eigenheiten verloren.
Auf gigantischen Äckern liegen noch kleine, oftmals ausgetrocknete Feuchtgebiete. Viele Böden haben ihren Humus und ihre Wasserspeicherfähigkeit verloren. In vielen Regionen des Landes sehen wir abgestorbene Bäume oder Kahlflächen, wo vor einigen Jahren noch produktive Wälder standen.
In den meisten Wäldern sind die dicken, alten Bäume schon lange verschwunden. Straßen, Wege und Rückegassen dringen in jeden Winkel vor, bis in den Wald hinein. Asphaltierte Straßen erschließen Windparks in ehemals zusammenhängenden großen Naturräumen, wie aktuell im Reinhardswald zu sehen ist. Überall der „Terrorismus der geraden Linie“, der sich seit 1878, als der romantische Künstler und Naturschützer Ernst Rudorff ihn beklagte, systematisch durch unser Land geschnitten hat.
Prof. Dr. Pierre Ibisch, Biologe und Professor für Sozialökologie der Waldökosysteme, ist Experte für Naturschutz und nachhaltige Entwicklung. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.
Wir zerstören die arbeitenden Landschaften
Fast 150 Jahre nach der anonym verfassten Anklageschrift von Ernst Rudorff wissen wir sehr genau, dass unser Umgang mit unserer (städtischen und ländlichen) Umwelt nicht nur ein ästhetisches Problem darstellt. Wir betrachten den Raum offenbar nur als Fläche, auf der wir etwas errichten könnten. Doch wenn die organischen Formen abgeschliffen wurden, das natürliche Variieren und Mäandrieren vernichtet ist und die biologische Vielfalt durch Monotonie ersetzt wurde, bleiben auch die Funktionen auf der Strecke.
Das subjektiv erlebbare „Landbild“ Deutschlands lässt sich auch wissenschaftlich belegen. In einer Studie unseres neuen Econic Institute, eines Thinktanks für Ökosysteme, haben wir die Leistungsfähigkeit unserer Natur quantitativ ausgewertet. Hierzu haben wir die Landoberfläche mithilfe von Satellitenbilddaten vermessen. Für uns besteht die Natur aus komplexen Systemen, die im wahrsten Sinne des Wortes Arbeit verrichten, um zu existieren und zu funktionieren. Durch diese physikalische Arbeit schaffen sie auch unsere Existenzgrundlage.
Die Pflanzendecke ist weg
Zur Beschreibung der Funktionstüchtigkeit können Indikatoren ausgewählt werden, die für eine Vielzahl von Prozessen stehen. Unter Berücksichtigung der Grünheit am Ende des Sommers, der Fähigkeit der Landoberfläche, sich an heißen Tagen zu kühlen, und der Niederschläge bestimmt die Studie die Arbeitsfähigkeit der Ökosysteme.
Die Ergebnisse des „Grün-Feucht-Kühl-Indexes” zeigen, dass große Teile unserer Landschaft ihre permanente Pflanzendecke – und damit ihre natürlichen Strukturen und ihre biologische Vielfalt – verloren haben und sich an heißen Tagen stark aufheizen. Die heißesten und „ungrünsten“ Gebiete sind oft auch die regenärmsten. Es gibt längst Belege dafür, dass eine verarmte und degradierte Landoberfläche aus komplexen Gründen weniger Niederschläge erhält. Wir sehen Hinweise darauf, dass dies auch in Deutschland der Fall ist.
Selbst ohne Klimawandel haben unsere Ökosysteme große Probleme. Bei zunehmender Hitze und vergrößertem Dürrerisiko ist jedoch die Funktionsfähigkeit der Ökosysteme akut gefährdet – und dies hat unmittelbare Konsequenzen für uns Menschen
Wer will schon in einem kühlen und feuchten Biotop leben?
Im Rahmen unserer Forschungen hatten wir schon mit Satellitendaten und mikroklimatischen Messungen nachweisen können, dass besonders intakte und alte Wälder die heißen und trockenen Sommer der Jahre nach 2018 vergleichsweise gut überstanden hatten. Deshalb warb ich in einem anderen Beitrag für FOCUS online Earth erstmals für das Motto „Grün, feucht, kühl!“ als strategischen Dreiklang für unser Land in der Klimakrise. Die Schlussfolgerung aus unseren Ergebnissen war, dass mehr Vegetation dazu führt, dass die Temperaturen an heißen Tagen niedriger bleiben. Das ist unter anderem ein Effekt der Verdunstungskühlung.
Nicht alle mögen es kühl. Im ersten Kommentar zum oben erwähnten Artikel schrieb ein Leser: „Die Leute fahren nach Spanien, Italien, in die Karibik, etc. damit es im Urlaub schön warm ist. Schön kühl und feucht? Ich will in keinem Biotop wohnen.“ Und neulich äußerte ein Bekannter in einer Diskussion zum Klimawandel: „Freuen wir uns über die gemütlich warmen Jahre! Menschen sind Tropenwesen - Hitzetod ist viel weniger wahrscheinlich als Kältetod”.
Am Ende wollen doch alle die Klimaanlage
Diese Aussagen muss man etwas sortieren. So schlafen viele Reisende, die ihren Urlaub in Hitzeländern verbringen, nachts dann doch gern mit laufender Klimaanlage im Hotelzimmer. Andere meiden die Reiseziele schlicht während der heißesten Monate im Hochsommer. Ein Blick auf aktuelle Forschungsergebnisse lohnt sich außerdem: Leider breiten sich aktuell die Gebiete auf der Erde aus, in denen die Temperaturen in heißen Perioden unerträglich hoch sind und gleichzeitig auch die Wasservorräte knapp werden.
Mit fortschreitender globaler Erwärmung - die von manchen Menschen zwar geleugnet oder kleingeredet wird, aber dennoch messbar ist – wird der Aufenthalt in manchen Gebieten der Tropen und Subtropen lebensgefährlich. Tatsächlich ist laut einer in der medizinischen Fachzeitschrift Lancet veröffentlichten Studie das Risiko, an Kälte zu sterben, in Osteuropa zweieinhalbmal so groß wie in Westeuropa. Der Hitzetod ist jedoch in Südeuropa sechsmal so wahrscheinlich wie in Nordeuropa.
Bei einer groß angelegten internationalen Untersuchung von mehr als 700 Orten in 43 Ländern wurde herausgefunden, dass im Zeitraum von 1991 bis 2018 durchschnittlich 37 Prozent der Todesfälle in Hitzeperioden auf den menschgemachten Klimawandel zurückgeführt werden können. Laut der Studie sind inzwischen alle Kontinente von einer erhöhten Sterblichkeit durch den Klimawandel betroffen.
Im Sommer des Jahres 2003 starben in Europa in Folge der außergewöhnlichen Hitze 70.000 Menschen mehr als gewöhnlich. Auch im Rekordsommer 2022 gab es über 60.000 Hitzetote. Die meisten Opfer waren übrigens in Italien, Spanien und in Deutschland zu beklagen. Es gab mehr Hitzetote unter Frauen als unter Männern, allerdings war die Sterblichkeitsrate vor allem bei Männern im Alter von 0 bis 64 Jahren besonders hoch (plus 41 Prozent).
Schuld und Aufregung
Unser Verhältnis zu Katastrophen, Bedrohungen und Nachrichten über sie ist verquer. Stellen wir uns vor, wie Medien und Menschheit reagiert hätten, wenn im Sommer 2022 insgesamt 150 Flugzeuge mit jeweils 400 Menschen an Bord abgestürzt wären – das wären insgesamt auch 60.000 Tote. Es würde niemand mehr in Flugzeuge steigen. Es gäbe technische und juristische Untersuchungen, Anklagen und größte Bemühungen, um zu verhindern, dass sich derartiges wiederholen könnte.
Nun sind aber 60.000 Menschen wegen übergroßer Hitze gestorben, und wir zucken mit den Achseln?
Das Problem der Hitzetoten ist, dass es keine Terroristen gibt, die sie umgebracht hätten, keine Ingenieure oder Fluglotsen, die wegen technischer Fehler haftbar gemacht werden könnten. Aber wer ist denn dann schuld? Eine komplizierte Frage.
Einerseits war es der Klimawandel, dieses große, schwer fassbare Phänomen, für das wir alle durch unseren Lebensstil irgendwie verantwortlich sein sollen. Andererseits sind all diejenigen schuld, die dafür verantwortlich sind, wie unsere Städte und Landschaften aussehen – und dass sie sich derart stark erhitzen, wenn es extreme Wetterlagen gibt. Das sind diejenigen, die zubetonierte Siedlungen bauen, Böden mit Straßen versiegeln, intensive Landwirtschaft betreiben oder intakte Wälder durch falsche oder zu intensive Nutzung schädigen.
Auch in diesem Fall sind letztlich wir selbst schuld, da das Land ja für uns genutzt, verstraßt und bebaut wird, damit wir so leben können, wie wir es für normal halten. Mit anderen Worten: Die Schuldfrage führt zu nichts, weil wir uns lieber in Klimaleugnung oder Selbsttäuschung flüchten, als unser Verhalten zu ändern. Aber wir sollten unbedingt davon absehen, Sündenböcke zu suchen.
Konstruktiv für Lebensqualität und Sicherheit
Wenn wir nicht schuld sein wollen an Schäden, Risiken und Katastrophen, dann sollten wir Verantwortung übernehmen, um für uns selbst und unsere Kinder die bestmöglichen Lebensbedingungen zu bewahren oder wiederherzustellen. Es gibt im 21. Jahrhundert nichts, das mehr Lebenssinn stiften könnte.
Es geht um einen konstruktiven Blick auf die Herausforderungen – jenseits jeglicher Ideologie oder Überzeugungen. Das beginnt damit, dass wir nüchtern auf die Fakten schauen: Es gibt immer häufiger extreme Wetterbedingungen. Wir sollten uns mit ihnen beschäftigen, auch wenn gerade Nieselregen fällt.
Die Sonne ist nicht schuld
Wir müssen anerkennen, dass Umweltprobleme beklagenswerte Opfer fordern. Dabei geht es nicht nur um die direkte Gefährdung von Menschenleben, sondern auch um sinkende Grundwasserspiegel, ausfallende Flüsse als Transportwege, steigende Waldbrandrisiken, das Absterben von Forsten und Ernteverluste. Die Probleme sind so vielschichtig, dass wir sie lediglich dann lösen können, wenn wir uns nicht nur an Hitzetagen mit ihnen auseinandersetzen.
Ebenso sinnlos wäre es, die Schuld der Sonne zuzuschieben. Wir dürfen die Probleme nicht verdrängen und können sie auch nicht einfach abschieben. Es wäre auch angemessen anzuerkennen, dass viele Menschen in Deutschland einem deutlich größeren Risiko ausgesetzt sind, während einer Hitzewelle zu sterben, als durch einen Überfall in der Stadt zu Schaden zu kommen. Die Unsicherheit droht von unvermuteter Seite.
Wir haben ein Problem mit unserem Stadtbild – und mit unserem Landbild auch. Sie sehen nicht gut aus, und wir nehmen sie außerdem verzerrt wahr. Deshalb sollten wir uns dafür einsetzen, dass sowohl unsere Gesellschaft als auch unsere Ökosysteme ihre Leistungsfähigkeit regenerieren können. Dafür benötigen sie Raum, Zeit und Ressourcen, um vielfältige Strukturen und Resilienz entwickeln zu können. Es braucht auch unsere Bereitschaft, Probleme in ihrer Komplexität zu verstehen und zu besprechen, um angemessene systemische Lösungen zu finden.