„Fehlender Wille zum Sieg“: Nato-Papier sieht die Ukraine am Rande des Kollaps
Mehr Waffen, mehr Munition, mehr Frieden – Experten sind sich einig, dass der Ukraine-Krieg wohl in den westlichen Parlamenten verloren gehen könnte.
Kiew – „Die Kurzform: Es fehlt an allem“ – Lars Petersen und Josh Groeneveld zeichnen im Business Insider (BI) ein düsteres Bild von der Lage an der Front des Ukraine-Krieges. Aus einem Nato-Papier wollen sie die Wunschliste der Ukraine herausgelesen haben – und die sei erschütternd lang.
„Mein Argument ist, wir müssen die Dinge beim Namen nennen“, sagte Sönke Neitzel gegenüber dem Norddeutschen Rundfunk; er ist Deutschlands bekanntester Militärhistoriker und hat sich seit Beginn des Krieges auch intensiv mit der Frage beschäftigt, was die Folgen wären, würde Wladimir Putin gewinnen. Auch der Business Insider gibt Grund zur Annahme, dass so langsam Antworten genau darauf fällig würden. Die Auflistung des BI soll vertraulich sein und direkt aus dem Nato-Rat kommen – eine Quellen-Angabe bleibt der BI indes schuldig.
Die Ukraine benötigt anscheinend offensive Ausrüstung genauso wie defensive – Trucks, Bulldozer, Schlauchboote und gepanzerte Fahrzeuge stehen beispielsweise auf der Liste. Laut dem Business Insider betitelt das Nato-Papier 45 einzelne Posten als „kritischen Bedarf“, also Waffensysteme oder Munitionsarten – über Flugabwehrsysteme, Artillerie und Kampfjets hinaus. Leopard-2- und Abrams-Kampfpanzer, Panzerabwehrlenkwaffen wie Javelins und Anti-Drohnen-Systeme wie das EDM4S Sky Wiper sollen ebenfalls enthalten sein.
Nato und G7 versprechen vollmundig Unterstützung „as long as it takes”
Immerhin ist die Europäische Union großzügig mit moralischer Unterstützung: „Alles in allem ist und bleibt der Erfolg der Ukraine, Russlands massive, illegale und unprovozierte Invasion abzuwehren, inspirierend. Das Land befindet sich weder politisch noch militärisch nahe einem Zusammenbruch, auch wenn die internationale Unterstützung manchmal nicht so zweckmäßig ist, wie sie sein könnte“, schreibt die Europäische Kommission auf ihrer Website unter der Überschrift „13 Mythen über den Krieg Russlands in der Ukraine – und die Wahrheit“. Die Überlegung, dass die Ukraine gegen Russland verlieren könne und „der militärische Zusammenbruch unvermeidlich sei“ stuft sie ein als Mythos Nummer 2. Allerdings entbehrt die Website eines Datums. Die Situation in Charkiw lässt den Verdacht aufkeimen, dass die EU sich daran orientiere, dass nicht sein könne, was nicht sein dürfe.
„Denn bei jedem Toten, jedem Verletzten, jeder Ruine, jedem auch noch so kleinen Vorrücken russischer Soldaten lässt sich doch denken: Hätte das nicht anders ausgehen können? Mit mehr Panzern, mehr Luftabwehr, mehr Munition?“
Konkreter wird da schon Nataliya Bugayova. Die Harvard-Absolventin und Stipendiatin des Institute for the Study of War (ISW) hat zeitgleich mit dem russischen Vormarsch auf Charkiw dargelegt, dass der Ukraine grundsätzlich eher ein Strategiewechsel des Westens nützen würde statt des Ausbaus des Nachschubs. Ihr zufolge müsse sich der Westen davon befreien, dass Russland nach Putins Invasion Anspruch hätte auf eine Unverletzlichkeit seines Hinterlandes durch westliche Waffen in der Hand der Ukraine.
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„As long as it takes”, hatten Deutschland, die G7-Staaten sowie die Europäische Union der Ukraine ihre Unterstützung zugesichert, wie das Auswärtige Amt informiert – also: solange, wie nötig. „Inhaltlich liegt der Schwerpunkt auf den Bereichen militärische und sicherheitspolitische Unterstützung: Dazu zählt insbesondere die zukünftige Ausrichtung der ukrainischen Streitkräfte und deren Ausbildung, die Kooperation der Rüstungsindustrie, die Reform des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungssektors, Cyber- und nachrichtendienstliche Zusammenarbeit.“
Hilfe des Westens Dauer zu lange – „diese Zeit hat die Ukraine nicht“
Diese politisch verbindliche Übereinkunft mit einer Laufzeit von zunächst zehn Jahren war im Februar unterzeichnet worden, als Russland letzte Hand an seine Aufmarschpläne gegen Charkiw gelegt haben mag. Krieg und Politik verlaufen unterschiedlich schnell. Die Zusagen des Westens für frische Waffen beträfen vornehmlich die kommenden Jahre, wie auch Hauke Friedrichs moniert: „Wenn Unterstützer bei der Industrie etwa moderne Kampfpanzer bestellen, dauert es mindestens zwei Jahre, bis diese hergestellt sind. Und dann müssen aber meist noch ukrainische Soldaten an den Systemen ausgebildet werden. Das dauert Wochen, wenn nicht Monate. Diese Zeit hat die Ukraine nicht“, schreibt der sicherheitspolitische Autor von Zeit Online.
Die für den Sommer erwartete russische Offensive ist längst im Gange – und läuft den politischen Abwägungsprozessen davon, wie Nataliya Bugayova kritisiert. Sie schreibt von verpassten Chancen der Ukraine, das Handeln auf dem Schlachtfeld zu bestimmen – ein Versäumnis vor allem der USA, „die Initiative der Ukraine nach zwei erfolgreichen Gegenoffensivoperationen im Herbst 2022 proaktiv zu unterstützen“. Was dazu geführt habe, der Ukraine zum Jahreswechsel 2023 eine dritte Phase der Gegenoffensive unmöglich zu machen. Anhand dieser „Gnadenfrist“ habe sich Russland einbunkern können und der Ukraine Vorwärtsbewegungen enorm erschwert.
Ex-US-General unterstellt dem Westen den fehlenden Willen zum Sieg
Bugayovas Fazit: „Die Frontlinie ab Mai 2024 würde anders aussehen, wenn die USA im Jahr 2022 proaktiv in die Initiative der Ukraine investiert hätten, wenn die USA leistungsfähigere Ausrüstung gestellt oder die Ergänzung früher verabschiedet hätten.“ Unterstützende Kritik kommt auch aus den USA direkt – Ben Hodges hat noch Ende März in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beklagt, dem Westen fehle der Wille zum Sieg. Der ehemalige Drei-Sterne-General war lange Zeit Kommandierender der US-Truppen in Europa und tritt als schärfster Gegner jedweder Art des Zauderns auf.
Gegenüber dem YouTube-Kanal Futucast hat Hodges bedauert, dass der Krieg möglicherweise zwar auch durch Social Media so breit dargestellt werde wie kein Krieg zuvor, aber dass die Bilder von explodierenden Panzertürmen oder den von Drohnen gefilmten Granaten-Einschlägen gleichzeitig auch betäuben würden. Über die wirkliche Lage seien vielleicht weniger Menschen wirklich informiert, als sie das glaubten – die Bilder erinnerten eher an Video-Spiele. Auch das würde vielleicht das Zögern des Westens begünstigen. Die ukrainisch-stämmige Politikwissenschaftlerin Nataliya Bugayova fordert deshalb, dass der Westen und vor allem die USA die Messer wetzen, um „heilige russische Kühe“ zu schlachten – Russland müsse militärisch wie wirtschaftlich der Rückzug abgeschnitten werden.
Ukraine-Kommandeur klagt über das Zaudern: „Wo Russland ist, ist nichts.“
Für die Ukrainerin können Panzer da inzwischen wohl nicht mehr helfen – die Zeit dafür scheint abgelaufen, nachdem der Krieg in eine neue Phase getreten war, die mit Charkiw jetzt ihren neuen Höhepunkt erreicht hat, weil der Krieg wieder an Geschwindigkeit gewonnen habe. Sie fordert in ihrem ISW-Papier deshalb, jetzt „den Himmel zu schließen“. Um die Ukraine wieder in die Lage einer Gegenoffensive zu versetzten, müssten deren Soldaten bei ihren Manövern besser geschützt werden, sie bräuchten Fähigkeiten um Russlands Kompetenz in offensiver wie defensiver elektronischer Kriegsführung in großem Maßstab auszuschalten, den Luftraum der Ukraine zu verteidigen und russische Hinterlandgebiete – einschließlich Territorien in Russland selbst – zu sprengen, wie sie schreibt.
Ihr Wunschzettel lautet vor allem: noch mehr Luftverteidigungs-Kapazitäten. Offenbar muss auch die Nato ihre Entscheidungsfindung dynamisieren und an den Frontverlauf anpassen. „Wo Russland ist, ist nichts. Wo einst blühende Städte standen, liegen heute Skelette, Leichen und Ruinen“, sagte kürzlich Generalleutnant Oleksandr Pawliuk dem britischen Economist. Der Kommandeur der ukrainischen Bodentruppen versprach, die ukrainische Armee bliebe standhaft – wenn sie bekäme, was sie braucht.
Möglicherweise eine ganz einfache Gleichung – zumindest für Daniela Vates vom Redaktionsnetzwerk Deutschland: „Denn bei jedem Toten, jedem Verletzten, jeder Ruine, jedem auch noch so kleinen Vorrücken russischer Soldaten lässt sich doch denken: Hätte das nicht anders ausgehen können? Mit mehr Panzern, mehr Luftabwehr, mehr Munition?“
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