Am Rande des Abgrunds: Zwischen Israel und dem Iran droht die Eskalation

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Nach dem iranischen Angriff auf Israel ist die Gefahr eines offenen Kriegs so groß wie nie. Besonders die rechte Ecke schreit nach Vergeltungsschlägen.

Tel Aviv/Teheran – Es ist eine Nacht voller Angst und Schrecken. Fast in allen Teilen Israels heulen die Warnsirenen, unheimliche Feuerschweife überziehen den Himmel. Videos zeigen Raketen auch über dem Himmel Jerusalems. Nach Stunden des bangen Wartens auf den Beginn des iranischen Großangriffs rennen Menschen teilweise in Panik in Schutzräume.

Raketen, Marschflugkörper und Drohnenschwärme fliegen in der Nacht zum Sonntag vom Westen des Irans in Richtung des mehr als 1.000 Kilometer entfernten Israels. Weit über 300 Flugobjekte zählte Israels Militär, von denen die Luftabwehr und die Verbündeten 99 Prozent abfingen.

Erstmals in ihrer Geschichte hat die Führung der Islamischen Republik einen Angriff direkt vom eigenen Territorium auf den jüdischen Erzfeind befohlen. Nach diesen bislang beispiellosen iranischen Vergeltungsschlägen auf Israel wächst die Sorge vor einem neuen großen Krieg in Nahost.

Großes Eskalationspotenzial nach iranischem Angriff

Seit Tagen drohte dieser Militärschlag, nachdem Irans Staatsführung Rache für die Tötung hochrangiger Offiziere angekündigt hatte. Am 1. April wurden bei einem mutmaßlich israelischen Luftangriff auf Irans Botschaftsgelände in der syrischen Hauptstadt Damaskus zwei Brigadegeneräle getötet. Nun erfolgte mit der Operation „Aufrichtiges Versprechen“ der Vergeltungsschlag. Die Militärführung in Teheran sprach von einer erfolgreichen Operation, Irans UN-Mission erklärte den Angriff für beendet und warnte zugleich vor Gegenschlägen – wohl wissend um das große Eskalationspotenzial.

Wie wird Israel jetzt auf den Angriff des Irans reagieren? Das hängt davon ab, ob die politischen Falken (die einen harten Gegenschlag fordern) oder die Tauben (die sich für Besonnenheit aussprechen) die Oberhand behalten.

Der iranische Alltag nach dem Angriff auf Israel: Menschen gehen an einem Plakat mit iranischen Raketen in der Teheraner Innenstadt vorbei
Alltag nach dem Angriff: Menschen aus Teheran gehen an einem Plakat mit iranischen Raketen vorbei. © IMAGO/Sobhan Farajvan

Israel hat als Ergebnis des iranischen Angriffs ein Stück weit die Solidarität seiner Verbündeten zurückgewonnen. Diese war wegen des harten israelischen Vorgehens und der vielen zivilen Opfer im Gaza-Krieg erheblich geschrumpft. Ein militärischer Alleingang gegen den Iran könnte dieses neue diplomatische Kapital aber wieder aufs Spiel setzen.

Der Experte Eldad Schavit vom israelischen Institut für Nationale Sicherheit sagte am Sonntag: „US-Präsident Biden bevorzugt eine koordinierte diplomatische Reaktion der G7-Führer gegen den Iran und hat Regierungschef Netanjahu klargemacht, dass die USA an Israels Seite stehen, aber gegen eine Gegenattacke sind und an einer solchen sicherlich nicht teilnehmen würden.“

Israels Rechtsextreme fordern „harte Antwort“ auf iranischen Angriff

Die rechtsextremen Partner Netanjahus, von denen sein politisches Überleben abhängt, fordern dagegen eine harte Antwort auf den Angriff. „Die Verteidigung ist bisher beeindruckend – jetzt brauchen wir eine vernichtende Attacke“, erklärte Polizeiminister Itamar Ben-Gvir. Es gibt allerdings auch moderatere Israelis, die einen Gegenschlag als notwendig ansehen, um die seit dem Terroranschlag vom 7. Oktober geschwächte Abschreckung Israels in der Region wiederherzustellen.

„Wir stehen offen gesagt am Rande eines gefährlichen Abgrunds“, sagte die Nahost-Expertin Maha Yahya von der Denkfabrik Carnegie dem Sender CNN. „Vieles hängt davon ab, wie Israel reagiert und ob es einen Gegenschlag, einen weiteren Angriff auf iranisches Territorium, durchführen wird.“ Ihrer Einschätzung nach war sich der Iran bewusst, dass ein Großteil der Raketen abgefangen werden würde. Der Angriff sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein „im Vergleich zu dem, was wirklich passieren könnte, wenn die Situation zu einem umfassenden regionalen Krieg eskaliert“.

Der israelische Militärsprecher Daniel Hagari hat die Idee, der Angriff des Irans auf Israel könnte eine Art geplanter Show ohne echte Schadensabsicht gewesen sein, vehement zurückgewiesen. „Ich glaube, der Iran wollte Ergebnisse erzielen, und dies ist ihm nicht gelungen“, sagte Hagari am Sonntag. Israel habe in der Abwehr militärische Überlegenheit gezeigt. Er sprach von einem „sehr bedeutsamen strategischen Erfolg“.

Aus der arabischen Welt kam teils Militärhilfe, um Irans Attacke abzuwehren. Die Streitkräfte des US-Verbündeten Jordanien schossen mehrere der Flugkörper ab. Abgewehrt wurden Irans Angriffe auch von US-Kräften im Nahen Osten.

Irans Staatsführung so unbeliebt wie lange nicht mehr

Neben der Bedrohung durch ein massives Raketen- und Drohnenarsenal fürchtet Israel auch das umstrittene Atomprogramm des Irans. Die USA haben Teheran immer wieder unterstellt, nach Nuklearwaffen zu streben. Der Iran bestreitet die Vorwürfe und beteuert, sein Atomprogramm rein zivil zu nutzen. Ein religiöses Rechtsgutachten durch Chamenei hatte zudem Massenvernichtungswaffen als unvereinbar mit dem Islam verboten.

Kurz nach dem Angriff auf Israel versammelten sich Regierungsanhänger im Zentrum der Hauptstadt Teheran, um die Vergeltungsschläge zu feiern. „Iran musste reagieren, um seine Stärke zu demonstrieren“, sagte ein Bewohner dann am Sonntag in der Millionenmetropole. Ein Großteil der Bevölkerung sieht die Raketenschläge jedoch mit Sorge. Irans Staatsführung ist so unbeliebt wie lange nicht mehr. Vor allem die junge Generation hatte bei Protestwellen der vergangenen Jahre offen den Sturz des islamischen Herrschaftssystems gefordert.

Anders als in der arabischen Welt beteiligten sich im Iran seit Beginn des Gaza-Kriegs keine Massen an den Solidaritätsdemonstrationen für die Palästinenser. Desillusioniert von fehlenden Zukunftschancen und einer repressiven Regierung dürften sich viele Iraner nicht dem Kurs ihrer politischen und religiösen Führung anschließen. Kurz nach dem Angriff stürzte die Landeswährung Rial auf ein Rekordtief. „Mit diesem Krieg wird sich die Situation der Menschen verschlechtern, alles wird teurer“, sagte eine 60 Jahre alte Frau. (Arne Bänsch und Sara Lemel)

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