Beschuss hinter der Front: USA geben Ukraine Freibrief für Offensive in Russland
Drohende Verluste im eigenen Land: Putin muss den Beschuss mit West-Waffen fürchten. Denn die USA lockern ihre Haltung zur Ukraine-Offensive in Russland.
Washington, D.C. – Für Jake Sullivan ist es keine Frage der Geografie. Er sagt, „es geht um gesunden Menschenverstand“. Mit diesen Worten erteilte der Nationale Sicherheitsberater im Kabinett von US-Präsident Joe Biden der Ukraine die implizite Genehmigung, die Reichweite ihres Feuers auf die Truppen Wladimir Putins zu erhöhen. Sullivan wehrte sich im Gespräch mit dem US-Sender PBS aber dagegen, diese Haltung als Änderung des US-amerikanischen Kurses bezüglich des Ukraine-Kriegs zu werten, er will das lediglich als Kurskorrektur verstanden wissen.
Wie das Magazin Politico berichtet, erfolgt diese Aussage nur wenige Wochen, nachdem die USA der Ukraine unter Vorbehalt die Einwilligung gegeben hatten, Angriffe auf russisches Territorium zu starten und damit im unmittelbaren Hinterland hinter der Charkiw-Front. Die USA wollten Angriffe auf Russlands Hoheitsgebiet ursprünglich mit russischen Attacken auf Charkiw verknüpft halten. Innerhalb der US-amerikanischen Politik war spätestens mit dem Angriff Russlands auf die grenznahe Stadt immer lauter diskutiert worden, „dass eine Lockerung der Beschränkungen für den Einsatz amerikanischer Waffen durch die Ukraine auf russischem Territorium ‚militärisch sinnvoll‘ sei“, berichtet Politico.
West-Waffen im Ukraine-Krieg: USA geben den Verteidigern mehr Freiheiten gegen Russland
Deshalb ermächtigte US-Präsident Joe Biden ukrainische Kommandeure, „gegen russische Streitkräfte zurückzuschlagen, die sie angreifen oder einen Angriff vorbereiten in und um Charkiw, nahe der Grenze im Nordosten der Ukraine“, wie die Washington Post berichtet hatte. „Ausgehend von der Ukraine, gibt es keinen Mangel an Beobachtungen, über die wir nachdenken sollten“, sagte James Rainey, wie ihn das Magazin Defense News zitiert. Der General leitet das Army Futures Command, also die für die Modernisierung der Streitkräfte zuständige Abteilung der US-Armee. Auch Politico nennt Stimmen zum Ukraine-Krieg, die den Einsatz US-amerikanischer Waffen gegen Wladimir Putin auf dessen eigenem Territorium als „Wert“ betrachten. Der erste große Landkrieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Generalprobe für den nächsten – möglicherweise noch größeren.
Präsident Biden kann nur einen Kurs und eine Vision dafür festlegen, was im Interesse der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten, im Interesse des transatlantischen Bündnisses und im Interesse unserer Partnerschaft mit der Ukraine liegt.
Die USA suchen nach ihrer künftigen Rolle als Weltmacht, Europa sucht parallel zu den USA gegenüber Russland eine Position, die sie sich leisten zu können glaubt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nehme, „ähnlich wie US-Präsident Joe Biden für sich in Anspruch, besonnen vorzugehen“, schrieb der Spiegel im Mai, parallel zum Auftakt der russischen Offensive auf Charkiw. „Er glaubt, Putin könnte Vergeltung üben, wenn ein Land wie Deutschland allzu weitreichende Waffensysteme liefert. Deshalb sperrt er sich gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern. Und deshalb lehnt er einen Schutz des ukrainischen Luftraums ausgehend von Nato-Territorium oder die Ausbildung von ukrainischen Soldaten durch Nato-Personal in der Ukraine ab“, analysierte der Spiegel weiter.
Russlands Pläne im Angriffskrieg: Nach Charkiw-Offensive droht bei Sumy ein neuer Brandherd
Diese Besonnenheit scheint sich zu verflüchtigen. Seit Ende Mai kursieren Gerüchte, Russland könnte rund 100 Kilometer nordwestlich Charkiw einen neuen Brandherd entfachen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte der New York Times gegenüber geäußert, dass er eine Offensive bei Sumy erwarte – die Stadt war bereits zu Beginn des Krieges 2022 Putins Begehrlichkeiten ausgesetzt gewesen, inzwischen will die Ukraine dort weitere Truppenkonzentrationen beobachtet haben; seine Befürchtungen hatte Selenskyj geäußert, bevor die russische Offensive in Charkiw zusammengebrochen war. Insofern könnte ein Angriff nahe Sumy an Attraktivität gewonnen haben.
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Auch für diesen Fall gibt Sullivan „Feuer frei“; die neue Vereinbarung gelte unabhängig vom Schlachtfeld: „Es erstreckt sich auf alle Orte, an denen russische Streitkräfte von der russischen auf die ukrainische Seite über die Grenze vordringen und versuchen, weiteres ukrainisches Territorium einzunehmen“, sagte der Politiker gegenüber PBS. Allerdings schränkt Politico diese Aussage auch wieder ein: „Die Politik, keine Langstreckenangriffe innerhalb Russlands zuzulassen, ,habe sich nicht geändert‘“, schreibt das Magazin unter Berufung auf anonyme Quellen im Pentagon.
Analysten-Kritik: Russland hat von monatelangem politischen Stillstand profitiert
„Das russische Ziel war, zumindest auf Artillerie-Reichweite auf Charkiw vorzustoßen, – also nicht die Stadt selber einzunehmen, dazu wären sie logistisch nicht in der Lage, sondern so weit vorzurücken, um die Stadt glaubwürdig bedrohen oder glaubwürdig beschießen zu können“, sagt Marcus Keupp im ZDF. „Allerdings ist der Vormarsch ziemlich stark und ziemlich schnell zum Erliegen gekommen. Sie sind ab der ukrainischen Grenze ungefähr drei oder vier Kilometer vorgedrungen und wurden dann gestoppt“, erläutert Keupp. Der Militärökonom der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich spricht im ZDF von den Auseinandersetzungen im Dreieck der Siedlungsräume Charkiw, Lyptsi und Wowtschansk.
Die bis vor kurzem prekäre Situation war „die Folge politischer Entscheidungen, eines löchrigen Mobilisierungssystems und vieler Monate politischen Stillstands“, urteilt Michael Kofman. Der Analyst des Foreign Policy Research Institute hatte in der New York Times den Rest dieses Jahres zur entscheidenden Phase des Krieges erklärt: „Wenn es der Ukraine gelingt, Russland in diesem Jahr auf bescheidene Gewinne zu beschränken, wird sich Moskaus Zeitfenster wahrscheinlich schließen und sein relativer Vorteil könnte 2025 zu schwinden beginnen.“
Dieses Szenario scheint eingetreten zu sein und wird sich möglicherweise bei Sumy fortsetzen und der Ukraine Aktivität abfordern. „Es ist Selbstverteidigung und daher macht es Sinn, dass sie dazu in der Lage sind“, sagte Patrick Ryder laut der Kiew Post. Den Schwerpunkt der US-amerikanischen Politik bezeichnete der Pressesprecher des Verteidigungsministeriums in der Fähigkeit der Ukraine, „im Falle eines Beschusses zurückschießen zu können“. Der Brigadegeneral hält die Tür für Gegenfeuer durch die Ukraine jetzt für noch weiter geöffnet.
Beobachtern zufolge wird das wohl auch nötig werden, weil sich die Front verbreitern werde. „Selbst eine begrenzte Steigerung der russischen Militäraktivität in der Nähe der Grenze, könnte dazu führen, dass die ukrainischen Streitkräfte an einer breiteren Front eingesetzt werden“, schreibt die New York Times aufgrund von Analysen des Institute for the Study of War (ISW).
Sullivan lobt Biden: Interessen der USA, der Nato und der Ukraine gleichermaßen gewahrt
Das gelte auch für eine tiefer gehende Invasion im engeren Raum um Charkiw herum, betont das ISW. Die europäischen Nato-Partner und die USA betonen jeweils die Unabhängigkeit ihrer Entscheidungen. Bisher versuchen die USA und die Nato, die Konsequenzen des meist aufeinander abgestimmten Verhaltens auf das gesamte Bündnis zu begrenzen, wie die Washington Post unterstreicht. Demnach betonen Nato-Diplomaten, „dass jegliche Ausbildung auf bilateraler Ebene zwischen den Mitgliedsstaaten und der Ukraine organisiert werden würde und nicht von der Nato selbst, die offiziell Distanz zum Krieg wahrt“, schreibt das Blatt.
Die Post betont in dem Zusammenhang nochmals die Weigerung Joe Bidens, eigenes Personal der US-Armee in die Ausbildung der Ukrainer vor Ort zu verstricken; allerdings stellt sie infrage, wie lange diese Entscheidung für die US-Regierung an Wert behält: „Ob dieses Verbot wie seine anderen roten Linien auf der Strecke bleibt, bleibt abzuwarten.“ Der Sender PBS hatte nach der „Halbwertszeit“ der US-amerikanischen Entscheidung gefragt – im Hinblick auf die unsichere Wiederwahl Bidens im November, gab sich Sullivan zuversichtlich ob der Verlässlichkeit der Vereinigten Staaten.
„Präsident Biden kann nur einen Kurs und eine Vision dafür festlegen, was im Interesse der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten, im Interesse des transatlantischen Bündnisses und im Interesse unserer Partnerschaft mit der Ukraine liegt. Und dieser Ansatz hat Amerika in der Vergangenheit gute Dienste geleistet. Und Präsident Biden wird an diesem Ansatz festhalten, solange er Präsident der Vereinigten Staaten ist, was er natürlich für weitere vier Jahre erwartet.“ (kahinz)