„Nationale Souveränität sichern“ : Russland vergreist - Putin setzt deshalb auf eine „spezielle Operation“
Russland steckt in einer tiefen demografischen Krise – ausgelöst durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine, massiven „Brain-Drain“ und seit Jahren rückläufige Geburtenzahlen. Hunderttausende Männer sind an der Front gefallen, verletzt oder geflohen. Gleichzeitig haben seit Kriegsbeginn laut Schätzungen bis zu einer Million Menschen das Land verlassen – viele davon junge, gut ausgebildete Berufstätige.
Der Politikwissenschaftler Alexander Libman sagte dazu bereits im vergangenen Jahr im Interview mit FOCUS online: „Langfristig ist die demografische Entwicklung ein extremes Problem für Russland. Russland ist eine alternde Gesellschaft mit niedrigen Geburtenraten, ähnlich wie in Deutschland. Es gibt viele ältere Menschen und nicht genug junge Leute.“
Mit Auswanderung und enormen Verlusten an der Front werde das Problem größer und größer. Russland könne sich demografisch so einen Krieg eigentlich nicht leisten. „Und das wird tatsächlich verheerend sein“, so der Experte.
„Spezielle demografische Operation“ beginnt in den Klassenzimmern
Die Antwort des Kremls auf diese demografische Schieflage: eine „spezielle demografische Operation“. Und die beginnt in den Klassenzimmern.
So ist seit 2025 an russischen Schulen das Pflichtfach „Familienkunde“ eingeführt worden, schreibt unter anderem der Militärforscher und Autor, welcher unter dem Namen Chris O. Wiki auf X veröffentlicht. Das neue Fach wird demnach ab der fünften und bis zur neunten Klasse unterrichtet.
Das eigens dafür entwickelte Lehrbuch vermittelt zudem eine klare Botschaft: Heirate mit 18, gründe eine Familie und trage zur Stärke der Nation bei. Dazu kommen materielle Anreize wie Mutterschaftszahlungen und Hypothekenprogramme für junge Familien sowie staatliche Hilfen für kinderreiche Familien.
In der Region Oryol erhalten schwangere Schülerinnen nach der zwölften Schwangerschaftswoche umgerechnet rund 1200 Euro. In Brjansk sogar bis zu 1800 Euro. Kritiker befürchten, dass der Staat Mädchen damit aktiv zur frühen Mutterschaft drängt – ohne ihnen echte Perspektiven zu bieten.
Frauen sollen sich „in allem ihren Männern unterordnen“
Gleichzeitig zeichnet das Schulbuch ein streng konservatives Bild von Ehe und Familie. Frauen sollen sich laut Text „in allem ihren Männern unterordnen“, Männer sollen „mit Liebe führen“, fasst der Blogger zusammen.
Vorbildhaft hervorgehoben wird der „Orden des elterlichen Ruhms“ – eine Neuauflage der sowjetischen „Mutter-Heldin“-Medaille, die kinderreichen Familien vom Präsidenten persönlich verliehen wird. Eltern mit sieben oder mehr Kindern können die Medaille erhalten, die 2008 Putin ins Leben gerufen wurde.
Mitverfasserin des Schulbuchs ist Ksenia Mosunova, die Begründerin der umstrittenen „Rodologie“. Diese Pseudowissenschaft propagiert die Bedeutung familiärer Blutlinien für das geistige und gesellschaftliche Wohl – und stellt sich offen gegen westliche Einflüsse.
Diese Ablehnung des Westens ist kein Zufall, wie Russland-Kenner Alexander Libman im Interview erklärte: „Die antiwestlichen Stimmungen sind jetzt in Russland sehr stark. Das ist eine beispiellose Situation: Wir haben zum ersten Mal seit über 100 Jahren eine klare Ablehnung des Westens als Ganzes, nicht nur der westlichen Politik oder gewisser Institutionen der westlichen Gesellschaften, durch große Teile der russischen Bevölkerung.“
„Brauchen eine spezielle demografische Operation, um nationale Souveränität zu sichern“
Die Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Familienschutz, Nina Ostanina, rechtfertigt die Maßnahmen mit deutlichen Worten: „Wir brauchen eine spezielle demografische Operation, um unsere nationale Souveränität zu sichern.“
Der Arbeitskräfteschwund und eine wachsende Isolation macht Russland zu schaffen. Libman betonte, dass Russland ein strukturelles Dilemma habe. „Langfristig sehe ich auf jeden Fall Probleme für die russische Wirtschaft, besonders im Bereich von Technologie, da wird irgendwann die Luft dünner. Es gibt zudem einen massiven Arbeitnehmermangel und Inflation, die mit großen staatlichen Ausgaben und dem Arbeitnehmermangel verbunden ist. Das sind aber eher mittel- bis langfristige Entwicklungen, die im relevanten Zeithorizont des Krieges unwichtig sind.“
Doch nicht nur die Wirtschaft leidet. Auch militärisch steht Russland personell unter Druck. Zwar vermied Putin lange Zeit offiziell eine neue Mobilmachung, laut Libman aus gutem Grund: „Wer wird dann bitte im Inland arbeiten? Wer produziert die Munition? Russland ist an einem Punkt, an dem es personell wirklich am Limit ist“, sagte der Experte bereits im Oktober.
Mittlerweile hat sich der Wind jedoch gedreht. Ende März dieses Jahres hat der Kreml-Chef vor dem Hintergrund seines Angriffskriegs gegen die Ukraine 160.000 junge Männer zum Wehrdienst einberufen. Bis Mitte Juli sollen die Russen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren eingezogen werden, heißt es in dem entsprechenden Präsidentendekret.
Ob „Familienkunde“ und Schwangerschaftsprämien die demografische Kurve nachhaltig drehen können, ist zweifelhaft. Kritiker werfen dem Regime vor, nicht auf echte Reformen, sondern auf Kontrolle und Ideologie zu setzen.