Beileid dem deutschen Volk: Afghanen melden sich zu Wort
Drei junge Afghanen aus dem Landkreis Ebersberg haben einen offenen Brief an das „deutsche Volk“ geschrieben – als Reaktion auf den Angriff in München. Sie sprechen den Opfern, ihren Familien und der gesamten deutschen Gesellschaft ihr aufrichtiges Mitgefühl aus.
Landkreis – Der Anschlag auf Demonstrierende in München und der Tod einer jungen Mutter und ihres Kleinkindes hat alle zutiefst betroffen, nicht nur Deutsche, auch Afghanen. Drei junge Männer aus dem Landkreis Ebersberg haben nun gemeinsam eine Stellungnahme verfasst, um sich von diesen und anderen Angriffen zu distanzieren. „Der Täter repräsentiert nicht unser Volk – er folgt der Ideologie der Taliban, einer Gruppe, die unser eigenes Land seit über 20 Jahren ins Verderben stürzt und uns unserer Heimat, unserer Familien und unserer Zukunft beraubt hat“, schreiben sie in einem Brief an die Deutschen. Jeder dürfe lesen, was er zu sagen habe, sagt Persina*. Dann aber kommt ihm doch die Sorge, er könnte Ziel von Gewalt werden, durch aufgebrachte Rechtsradikale oder, wovor er fast noch mehr Angst hat, durch Taliban-Anhänger.
Eintauchen in Vielvölkerstaat
Da sitzt ein junger Mann, mit einer bestechenden Fröhlichkeit, einem unerschütterlichen Optimismus und einem außergewöhnlichen Ehrgeiz. Um seine Lebensgeschichte zu verstehen, muss man in die komplexe politische Situation Afghanistans eintauchen: Ein Vielvölkerstaat, mit mehr als zehn Ethnien, eine der stärksten und einflussreichsten Bevölkerungsgruppe sind Paschtunen. In diesem Stamm pflegt man einen sehr strengen und stark vom orthodoxen Islam geprägten Glauben, und hier findet man auch die Wiege der Taliban, mit ihrer extremistisch religiösen Ausprägung.
„Sie sind der Grund, warum ich meine Heimat verlassen musste, vor ungefähr zehn Jahren“, erzählt er. Sein Geburtsdatum ist ihm nicht bekannt. Heute stehen der 1. Januar und das wahrscheinliche Geburtsjahr in den Dokumenten, die ihm vom deutschen Staat ausgehändigt wurden. Seine ursprüngliche Heimat: Daikondi, eine schwer zugängliche Bergregion in Zentralafghanistan, ein grauer Fleck auf der Landkarte, so unbedeutend, dass sie den deutschen Seiten von Wikipedia nicht mehr als 430 Zeichen wert ist. Persinas Familie gehört zur Ethnie der Hazara. Es sei ein liberal denkendes Volk, sagt er, Frauen hätten hier immer schon mehr Rechte, als in anderen afghanischen Volksstämmen. Ein Grund für die tödliche Gewalt: „Hazara gelten in den Augen der Taliban als ‚Ungläubige‘“. Eine Redensart der Kämpfer zeigt das Ausmaß der Bedrohung: „Tadschiken nach Tadschikistan, Usbeken nach Usbekistan, Hazara nach goristan – auf den ‚Friedhof‘.“
Jede Fahrt aus dem Dorf wurde zur Lebensgefahr
Man stelle sich kleines afghanisches Dorf vor, weit entfernt von größeren Siedlungen. „Jede Fahrt aus dem Dorf wurde zur Lebensgefahr“, sagt Persina, ein Schulbesuch war in seinem Leben nur für ein paar Monate möglich. Wenn er von seiner Kindheit erzählt, gerät sein ansonsten recht sicheres Deutsch ins Stocken: „Ich kenne viele Menschen, die von den Taliban getötet worden sind.“
Irgendwann hat sich Persina entschieden, seiner Heimat den Rücken zu kehren, da war er etwa 15 Jahre alt. „Meine Eltern wollten nicht, dass ich sie verlasse, aber sie sahen: Ich bin dazu gezwungen.“ Und was fühlt ein Jugendlicher in diesem Augenblick? „Risiko und eine dunkle Zukunft.“ Fünf Jahre lang hat die dunkle Zeit gedauert, eine Odyssee voller Unsicherheit: Erst ging er in den Iran, dann wieder zurück in die Bergregion Daikondi, der Vater brauchte Hilfe. Persina musste erneut fliehen, wieder in den Iran, wo er fast fünf Jahre verbrachte. „Ein Land ohne jegliche Rechte für uns“, sagt er. Und schließlich habe er sich zu Fuß auf die 5000 Kilometer lange und etwa vier Monate währende Flucht begeben: durch die Türkei, durch Griechenland, Nordmazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich. An keiner einzigen Grenze sei er kontrolliert worden, nicht an der EU-Außengrenze und auch nicht an den Grenzen innerhalb der EU. Die erste Kontrolle und Registrierung habe es an der deutschen Grenze gegeben, erzählt Persina. Das war 2019.
Der Brief
Liebes deutsches Volk,
mit tiefstem Bedauern verurteilen wir den schrecklichen Angriff in München und sprechen den Opfern, ihren Familien und der gesamten deutschen Gesellschaft unser aufrichtiges Mitgefühl aus.
Wir, eine Gruppe junger Afghanen, kennen diesen Schmerz nur zu gut – denn auch wir sind Opfer derselben Ideologie, die unser Leben und unsere Zukunft zerstört hat.
Wir möchten, dass die Menschen in Deutschland wissen: Wir sind Afghanen, aber unser Denken und unsere Überzeugungen sind nicht einheitlich. Afghanistan ist ein Land mit vielen ethnischen Gruppen, Kulturen und Werten. Der Täter repräsentiert nicht unser Volk – er folgt der Ideologie der Taliban, einer Gruppe, die unser eigenes Land seit über zwanzig Jahren ins Verderben stürzt und uns unserer Heimat, unserer Familien und unserer Zukunft beraubt hat.
Extremismus kennt keine Grenzen und keine Nationalität, doch wir glauben, dass Solidarität, Wissen und Menschlichkeit der einzige Weg sind, ihm entgegenzutreten. In dieser schweren Zeit stehen wir an der Seite der Menschen in Deutschland und wünschen Frieden, Sicherheit und ein gemeinsames Miteinander.
Mit Respekt, eine Gruppe afghanischer junger Männer:
Persina, Bashir, Jamal*
Meine News
In Deutschland hat Persina vom ersten Tag an seine Möglichkeiten genutzt. Er habe Deutsch gelernt, Schreiben und Lesen, erzählt er, habe sich im Selbststudium Rechnen beigebracht und den Führerschein auf Anhieb geschafft. Nur die Berufsausbildung zum Koch musste er abbrechen, die er ein Jahr nach seiner Ankunft in Angriff genommen hat. In der Berufsschule habe man keine Rücksicht auf ihn nehmen können, denn er saß ohne Deutsch- und Mathematikkenntnisse in einer Regelklasse. Er ist heute voll berufstätig, genau wie seine beiden Freunde. „Ich habe so viel geschafft“, sagt er, „ich schaffe auch noch alles andere.“
Afghanen im Landkreis Ebersberg
In der ausländerrechtlichen Zuständigkeit des Landkreises befinden sich nach Angaben der Behörde derzeit 607 afghanische Staatsangehörige. 445 Personen besitzen einen Aufenthaltstitel aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen (z. B. Zuerkennung Flüchtlingseigenschaft, Feststellung eines Abschiebeverbots oder Aufnahmezusage durch das Bundesministerium des Innern). 65 Personen besitzen einen Aufenthaltstitel, der einen Familiennachzug ermöglicht. Aktuell gibt es im Zuständigkeitsbereich des Landratsamtes „fünf afghanische Staatsangehörige (teilweise in Haft), die aufgrund nicht unerheblicher strafrechtlicher Verurteilungen ausgewiesen wurden und bei denen eine Abschiebung angeordnet wurde“. Bei drei Personen werde derzeit geprüft, ob aufenthaltsbeendende Maßnahmen einzuleiten sind.
Sein größter Wunsch ist, irgendwann den deutschen Pass in seinen Händen zu halten. Der würde ihm endlich das Gefühl von Sicherheit geben. Mit den Anschlägen in München droht nun, dass alle Menschen aus Afghanistan in kollektive Schuld geraten. Der Brief von Persina und seinen Freunden liest sich wohl deshalb wie eine Mischung aus Mitgefühl und Sorge: „Auch wir sind Opfer der Taliban, sie haben unser Leben und unsere Zukunft zerstört.“
* Persina und seine Freunde sollen geschützt bleiben, darum werden nicht die richtigen Namen genannt. Der Redaktion sind sie bekannt.