Merz-Regierung plant Primärarztsystem: Hausärzte sehen „einzig vernünftigen Weg“ – Fachärzte kritisieren
Deutschland plant einen Strukturwandel im Gesundheitswesen. Ein neues System soll Patientenströme besser lenken.
München – Deutsche gehören zu den häufigsten Arztbesuchern weltweit. Durchschnittlich besucht jeder Bürger etwa zehnmal im Jahr eine Arztpraxis, was deutlich häufiger ist als in anderen Ländern, so das ZDF-Morgenmagazin (MOMA). In einigen Regionen haben sogar 50 Prozent der Bevölkerung zwei Hausärzte. Doch sind die Deutschen wirklich kränker? Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, äußert im Gespräch mit dem ZDF-Morgenmagazin: „Nein, das glaube ich nicht.“
Experte sieht „keine Koordinierungselemente“ für Arztbesuche in Deutschland – Primärarztsystem soll kommen
Reinhardt sieht die Ursachen vielmehr in strukturellen Gegebenheiten: „Das liegt im Wesentlichen daran, dass wir in Deutschland überhaupt keine Koordinierungselemente haben, wann, wie, wo, wer, weshalb zum Arzt geht. Wir sind das einzige Land der Erde, was es dem Patienten alleine überlässt zu entscheiden, wohin er sich mit seinen Beschwerden wendet.“ Um dieses Problem zu lösen, haben sich Union und SPD im Koalitionsvertrag auf das Primärarztsystem verständigt. Reinhardt sah sogar die Option, dass Kosten auf diejenigen zukommen, die sich nicht daran halten.
Primärarztsystem der Merz-Regierung soll Wartezeiten verkürzen
Im Koalitionsvertrag wird betont: „Die ambulante Versorgung verbessern wir gezielt, indem wir Wartezeiten verringern, das Personal in ärztlichen Praxen entlasten und den Zugang zu Fachärztinnen und Fachärzten bedarfsgerecht und strukturierter gestalten.“ Das Primärarztsystem sieht vor, dass Patienten zunächst den Hausarzt aufsuchen, der dann entscheidet, ob eine Überweisung zum Facharzt notwendig ist.

Sollte eine fachärztliche Behandlung erforderlich sein, kann der Hausarzt Termine innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens vergeben, die von der Kassenärztlichen Vereinigung koordiniert werden. Falls dies nicht möglich ist, besteht die Möglichkeit, dass Patienten ambulant im Krankenhaus von einem Facharzt behandelt werden. Ausnahmen im Primärarztsystem sind für die Augenheilkunde und Gynäkologie vorgesehen, während die Zahnheilkunde im Koalitionsvertrag nicht erwähnt wird.
Für Menschen mit chronischen Erkrankungen plant die Koalition individuelle Lösungen, wie Jahresüberweisungen oder die Einbindung eines Fachinternisten als steuernden Primärarzt. Bis 2028 sollen auf diese Weise bis zu zwei Milliarden Euro eingespart werden. Hausarzt Thomas Jantsch ist ebenfalls der Meinung, dass das Primärarztsystem zur Kostensenkung beitragen könne. Er erklärt im Gespräch mit dem BR: „Die Leute landen dadurch, dass sie bei uns sind, auch in der Regel gleich beim richtigen Facharzt, wenn man denn einen bräuchte.“
Hausärzteverband unterstützt Pläne der Merz-Regierung
Auch der Hausärzteverband unterstützt die Pläne der neuen Regierung. Angesichts der Herausforderung, immer mehr und ältere Patienten mit begrenzten Ressourcen zu versorgen, sei eine stärkere Struktur im Gesundheitssystem notwendig. Nicola Buhlinger-Göpfarth, Bundesvorsitzende des Hausärzteverbandes, äußert gegenüber Focus online: „Ein Primärarztsystem, wie es in vielen europäischen Ländern längst der Standard ist, ist der einzig vernünftige Weg.“
Reinhardt betont im Gespräch mit dem ZDF-Morgenmagazin, dass Patienten oft nicht wissen, welcher Arzt der richtige für sie ist, was zu einem Irrweg durch die medizinischen Fachbereiche führt. Er schlussfolgert: „Diese Arzt-Patienten-Kontakte müssen wir im Wesentlichen abbauen, damit wir Zeit und Raum und Luft gewinnen für die, die aktuell leider lange warten müssen.“
Kritik am Primärarztsystem: Fachärzte-Verband befürchtet „hausärztlichen Flaschenhals“
Der Spitzenverband der Fachärztinnen und Fachärzte Deutschlands, der eigentlich entlastet werden soll, äußert jedoch Kritik. In einer Mitteilung des Verbandes heißt es: „Es ist vielmehr angesichts der enormen Zahl der heute ohne ärztliche Überweisung in die Facharztpraxen strömenden Patientinnen und Patienten schlichtweg unmöglich, dass diese ausschließlich über Hausärztinnen und Hausärzte ihren Zugang zur ärztlichen Versorgung erlangen und gesteuert werden sollen.“
Die rund 55.000 Hausärzte in Deutschland wären mit den geschätzten 112 Millionen zusätzlichen Arztfällen überfordert. „Ein solcher hausärztlicher Flaschenhals wäre ein versorgungspolitischer Super-GAU.“ Der Spitzenverband fordert daher, dass Patienten in bestimmten Fällen direkt zum Facharzt gehen können, insbesondere bei chronischen oder episodischen Erkrankungen. (cln/jh)