Tränenblind vor Liebe: „Tannhäuser“ und „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen

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Eklat auf der Wartburg: „Tannhäuser“-Szene mit (v.li.) Le Gateau Chocolat, Irene Roberts, Manni Laudenbach, Klaus Florian Vogt und Elisabeth Teige. © Enrico Nawrath

Mehr Kontrast geht nicht bei den Bayreuther Wiederaufnahmen: „Parsifal“ setzt auf digitale Illustration, „Tannhäuser“ auf pure, wahrhaftige Emotion.

Husten, Flüstern, Bonbons auspacken – alles unter Höchststrafe im heil‘gen Haus. Doch jetzt brandet Applaus auf, mitten in der Ouvertüre zum „Tannhäuser“. Ausgelöst durch eine neue Videosequenz im Roadmovie: Manni Laudenbach alias Oskar sitzt da im wackelnden Oldtimer-Bus, erhebt sein Schnapsglas, und der Gegenschuss zeigt ein Foto des an Krebs gestorbenen Stephen Gould im Kostüm des Titelhelden, er war die Bayreuther Premierenbesetzung. Manche Träne fließt im Festspielhaus, auch diese feine, berührende Geste ist typisch fürs Regieteam um Tobias Kratzer.

Überhaupt zeigen die Ovationen schon nach den Aktschlüssen: Hier ist eine Inszenierung nicht nur beim Publikum angekommen, sie wird sogar geliebt. Ein Sänger, Tannhäuser, der nicht aus der Wartburg-Welt, sondern aus dem Bayreuther Zirkel ausbricht, sein Heil in der Flucht mit einer Dragqueen (Le Gateau Chocolat), einem Venus-Glitzer-Girlie (Irene Roberts mit gedecktem Mezzo) und Oskar sucht, das ist eine Geschichte, die uns alle angeht. Weil die moderne Folie über Wagners sagenhafte Handlung die Frage aufwirft, die sich jede(r) irgendwann fürs eigene Leben stellt: War das wirklich alles?

Kratzer bleibt mit Rainer Sellmaier (Bühne) und Manuel Braun (Video) nicht im Augenzwinkermodus. Schnell wird die Sache ernst und tödlich. Der dritte Akt, der mit dem Suizid Elisabeths ins Bodenlose stürzt, gehört zum Erschütterndsten, das nicht nur auf Bayreuths Bühne zu erleben ist. Elisabeth Teige singspielt sie wieder als herbe, selbstbewusste, zerbrechende Frau. Markus Eiche ist ein vielschichtiger Wolfram ohne Minne- und Kammersängerattitüde, Günther Groissböck hat sich als Landgraf von seinem Marke-Einbruch tags zuvor in der „Tristan“-Premiere weitgehend erholt. Und Klaus Florian Vogt muss im ersten Akt mit der Atemkontrolle kämpfen, singt sich mit imponierenden Tenortonsäulen zunehmend frei.

„Werkstatt Bayreuth“, das heißt bei Kratzer & Co. auch: reagieren auf Aktuelles. Ein Mini-Plakat kündigt in diesem Jahr „Dr. Claudias Kasperltheater“ mit „Hänsel und Gretel“ an, verspottet also die Programmideen der Kulturstaatsministerin für Bayreuth. Und als Le Gateau Chocolat im Video die berühmte Foto-Reihe im Backstage-Bereich durchstöckelt, greift sie zum Edding: Aus „Dirigentengalerie“ wird kurzerhand „Dirigent:innen-Galerie“ – die Damen sind 2024 schließlich in der Überzahl.

Nathalie Stutzmann hat im zweiten Jahr ihr Dirigat verfeinert. Etwas mehr Zeit gönnt sie sich mit dem Festspielorchester. Doch ist das nie geschmäcklerisch, sondern voller Eleganz, kantabel, auf die Phrasierung von Sängerinnen und Sängern reagierend. Den großen Moment gestattet sie sich schon auch. Aber das ist keine Präpotenz, sondern aus der dramatischen Situation erfühlt. Nur folgerichtig, dass Stutzmann 2026, zum 150. Geburtstag der Festspiele, den neuen „Rienzi“ dirigieren soll.

Auch Kollege Pablo Heras-Casado zählt schon zur Stammbesetzung in seinem zweiten „Parsifal“-Sommer. Wagner-Erfahrung hat er als Musikdirektor an der Oper Madrid gesammelt, nun ist er für einen neuen „Ring“ 2028 gesetzt. Die Entdeckerfreude, das Bewusstsein für die „Parsifal“-Kraftfelder, ihre Verlagerungen, ihre Abschwächungen und Verdichtungen, all das spricht aus jedem Takt. Heras-Casado ist im sehr schnell genommenen Akt eins bewusst, dass es sich um ein Konversationsstück handelt. Trotzdem bedient er die dramatischen Aufgipfelungen, kostet auch die Lyrismen im dritten Aufzug (zu gern) aus. Geschmäcklerisch ist das noch lange nicht. Es ist eine Interpretation, die vieles will und vieles kann, aber auch auseinanderstrebt und in ihren schwächeren Momenten unstet wird. Dennoch fasziniert, wie Heras-Casado mit dem Festspielorchester auch in Schwermetallmomenten immer flexibel, fast schwerelos bleibt.

Georg Zeppenfeld und Irene Roberts
Entwaffnender Mustermann: Georg Zeppenfeld (Gurnemanz), hier mit Irene Roberts (Kundry). © Enrico Nawrath

Andreas Schager (Parsifal) hätte sich problemlos gegen Heftigeres durchsetzen können. Da gibt es schon Verhaltenes, das meiste ist aber Muskelspiel. Ekaterina Gubanova (Kundry) bietet das Gegenmodell, nämlich Dramatik ohne Grenzübertritt. Derek Welton muss sich mit reichhaltigem Bariton als Amfortas in der Höhe mühen. Jordan Shanahan empfiehlt sich als Klingsor für Großes. Ebenso Tobias Kehrer als Titurel, doch auf der Gurnemanz-Position ist der entwaffnende Mustermann Georg Zeppenfeld weiter unangefochten.

Wer will und sich die Computerbrille für die „Augmented Reality“ leistet, darf im zweiten Jahr der Produktion neue Digital-Animationen erkennen. Regisseur Jay Scheib und sein Team haben manche Effekte plastischer, farbiger programmiert. Erotik- und Religionssymbole suggerieren eine zweite Ebene, das meiste bleibt in der Illustration stecken. Statt einem Schwan flattert gleich ein Schwarm durchs Bild, dazu gibt es blutige Extremitäten, Dornengeflechte und eine Blumenwiese im dritten Aufzug, bei der man durch Kopfbewegung einen Lichtpunkt steuert und die Pflanzen niedermäen kann. Viele setzen die drückende, warmlaufende Brille irgendwann ab: Über eine nette, teure Spielerei kommt das Experiment noch immer nicht hinaus.

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