Elektrosensible Oberbayerin soll ausziehen – nun setzt sie sich zur Wehr
In der Grundschule Böbing soll die Ganztagsbetreuung. Deshalb soll Sabine Mühlbauer aus ihrer Wohnung ausziehen. Die Seniorin wehrt sich vor Gericht.
Böbing – Fast 30 Jahre wohnt Sabine Mühlbauer bereits im Erdgeschoss des alten Schulgebäudes, als vor zwei Jahren plötzlich die Kündigung des Mietvertrages im Briefkasten steckt: Ihr Zuhause soll einer Erweiterung der Ganztagsbetreuung weichen. Für die 62-Jährige ein „Schock“.
Ab 2026 wird die Nachfrage nach Betreuungsplätzen in der Ganztagsschule steigen, schließlich gilt ab kommendem Jahr ein bundesweiter Rechtsanspruch. Für die Verwaltung stand fest: Die bestehenden Räumlichkeiten reichen nicht aus. Die Lösung: Die Mietwohnungen im alten Schulhaus sollen es sein. Während eine der beiden Mietparteien bereits ausgezogen ist, weigert sich Sabine Mühlbauer, ihrer langjährige Bleibe den Rücken zu kehren. Die 62-Jährige begründet ihre Entscheidung mit einem ungewöhnlichen Leiden.
62-jährige Bewohnerin der alten Grundschule machte gesundheitlich bereits einiges durch
Infolge eines Zeckenbisses hatte sich die Böbingerin nach eigenen Aussagen vor 20 Jahren mit Borreliose infiziert. Noch heute kämpft sie mit den Folgen der Krankheit: „Seitdem bin ich elektrosensibel“, sagt Mühlbauer, die sich mittlerweile dem Kampf gegen die Strahlung verschrieben hat (siehe Kasten). Für einen skurrilen Einzelfall hält sich die 62-Jährige aber nicht. Die Existenz der Krankheit sei nur nicht allen Menschen bekannt, die an den Symptomen leiden.
Elektrosensibilität: Wissenschaft ist skeptisch
In Wissenschaftskreisen herrscht bis heute Uneinigkeit über die Existenz von Elektrosensibilität. Wie das Bundesamt für Strahlenschutz auf seiner Internetseite schreibt, bezeichnet sich etwa ein Prozent der deutschen Bevölkerung als elektrosensibel. Betroffene führen Symptome wie Kopfschmerzen, Herzrasen oder Übelkeit auf elektrische, magnetische oder elektromagnetische Strahlung in ihrer Umgebung zurück. Bislang sei es jedoch „nicht gelungen, Zusammenhänge wissenschaftlich fundiert nachzuweisen“, so das Bundesamt.
Während sich die Betroffenen schnell in eine Ecke gedrängt oder missverstanden fühlen, erklärt sich die Mehrheit der Forscher das Phänomen entweder mit psychischen Erkrankungen oder dem „Nocebo-Effekt“ – dem Gegenteil des Placebo-Effekts. Demnach rufe bereits das Wissen über die Anwesenheit von elektrischen Feldern bei Betroffenen die besagten Symptome hervor.
Ihre Wohnung hat die Böbingerin mittlerweile komplett auf ihre ungewöhnlichen Lebensumstände angepasst. Selbst im angrenzenden Sekretariat der Schule nehme man Rücksicht auf die strahlungsempfindliche Nachbarin und stelle nach dem Arbeitstag elektronische Geräte ab, sagt Mühlbauer. Ruhig schlafen könne sie aber nur unter einem „Strahlenschutz-Baldachin“. Sie vermutet, in jeder anderen Wohnung den elektrischen Feldern benachbarter Haushalte ausgesetzt zu sein und fürchtet, im Falle ihres Auszugs im Auto schlafen oder gleich in den Wald ziehen zu müssen.
Geht es nach der 62-Jährigen, dann hat die Gemeinde genug andere Optionen, wo sie die Ganztagsbetreuung unterbringen könnte: etwa im Proberaum der Blaskapelle. Doch Böbings Bürgermeister Peter Erhard hält dagegen. Die Musiker hätten um die Jahrtausendwende tatkräftig mitgeholfen, den Raum zu gestalten. An beinahe allen Wochentagen sei der Saal belegt – meist ab 14 Uhr. Zudem stünden überall Instrumente herum. „Es gibt keine anderen Räume für die Blaskapelle“, stellt Erhard vor dem Weilheimer Amtsgericht klar. Mittlerweile ist der Konflikt zu einem beachtlichen Rechtsstreit mit Räumungsklage angewachsen. Sabine Mühlbauer droht der Rauswurf.
(Übrigens: Alles aus der Region gibt‘s jetzt auch in unserem regelmäßigen Schongau-Newsletter.)
Meine News
Bewohnerin liegt Räumungsklage vor und wehrt sich gegen drohenden Rauswurf
Dem Argument der Böbingerin, einige Klassenzimmer stünden nach Mittag leer und könnten von der Ganztagsbetreuung genutzt werden, bietet die Gegenseite ebenfalls Contra. Das möge sein, allein aufgrund des vielen Materials seien aber weder die Klassenzimmer noch andere Räume im neuen Schulhaus geeignet für die Ganztagsbetreuung. Die Bücherei vom Schulgebäude in das benachbarte und von Vereinen genutzte Scheiberhaus umzusiedeln und den so geschaffenen Platz für die Ganztagsbetreuung zu nutzen, kommt für die Gemeinde ebenfalls nicht infrage.
Mühlbauer hat indessen große Zweifel, dass in Zukunft deutlich mehr Familien das Betreuungsangebot in Anspruch nehmen werden. Während Erhard erklärt, dass es anstatt der 30 bis 40 Kinder, die täglich in der Einrichtung gemeldet sind, bald bis zu 50 sein könnten, ist die 62-Jährige anderer Meinung: Die demografische Entwicklung deute auf einen Rückgang der Kinderzahlen hin.
Bürgermeister schlägt Alternativwohnung vor
„Gibt es denn eine Alternativwohnung in der Gemeinde?“, wollte Richterin Katja Steigelmann wissen. „Ja, man muss nur mit uns reden“, entgegnete der Böbinger Rathauschef. Zwei Etagen über Sabine Mühlbauers Wohnung befand sich bis zuletzt eine weitere Mietwohnung. Eigentlich soll sie künftig Ganztags-Kindern mit Integrationsbedarf zur Verfügung stehen. Erhard sieht jedoch die Möglichkeit, umzudisponieren und die Obergeschosswohnung, die noch saniert werden muss, Mühlbauer zuzusprechen. Das werfe das gemeindliche Konzept zwar etwas durcheinander, sei aber denkbar, erklärt er.
Einigung auf „Testwoche“
Ein Vorschlag, der für Optimismus sorgt. In trockenen Tüchern ist die Sache aber noch nicht: Dass sie in dem etwas höher gelegenen Apartment keine gesundheitlichen Probleme haben wird, kann Sabine Mühlbauer nicht versprechen. Sorgen bereiten ihr sowohl die Photovoltaikanlage auf dem Dach als auch die Strahlen von den Funktürmen auf dem Hohen Peißenberg und dem Schnaidberg. Letztere erreichen sie im zweiten Stockwerk deutlich leichter als in ihrer „Oase“ im Erdgeschoss, vermutet die Böbingerin. Sie versichert aber, es zumindest versuchen zu wollen, und hat sich nun für eine „Testwoche“ im März bereit erklärt.