Akt der Verzweiflung? Selenskyj bietet Putin Gebiete an – unter einer Bedingung
Kehrtwende in der Argumentation: Die Ukraine sieht sich gezwungen, die besetzten Gebiete abzutreten – wenn die Nato den Rest des Landes beschützt.
Kiew – „Wir wollen nichts schönreden. Russland ist an allen Fronten in allen Bereichen derzeit militärisch in der Initiative“, sagt Christian Freuding. Der deutsche Generalmajor und Leiter des Planungs- und Führungsstabes im Verteidigungsministerium hat damit im aktuellen Bundeswehr-Podcast „Nachgefragt“ offenbar eingeräumt, dass die Ukraine trotz der „unglaublichen Durchhaltefähigkeit, die man mit Händen greifen könne“, wie er sagt, definitiv mit dem Rücken an der Wand steht. Entgegen anders lautender Äußerungen kann sich Wolodymyr Selenskyj jetzt offenbar doch vorstellen, die von Wladimir Putin besetzten Gebiete abzutreten. Unter einer Bedingung.
Der Präsident der Ukraine vollzieht damit eine Kehrtwende zu seinen bisherigen Aussagen; beispielsweise, dass sein Volk niemals aufgeben werde, wie er eingangs des Krieges der US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP) betonte. Oder wie er noch Anfang November gegenüber AP Friedensverhandlungen ausgeschlossen hatte und dementierte, dass die beiden Kriegsparteien in einer Pattsituation steckten. Jetzt ergänzt Selenskyj seinen vor wenigen Wochen apostrophierten Siegesplan – und stößt die Nato vor den Kopf.
Selenskyj knickt ein und will akzeptieren, die aktuell von Russland besetzten Regionen abzutreten
In einem Interview mit dem US-Sender Sky News hatte Selenskyj vor allem gefordert, die von der Ukraine kontrollierten Gebiete unter den Schutz der Nato zu stellen. Im Gegenzug dafür will er offenbar akzeptieren, dass die aktuell von Russland besetzten östlichen Regionen, „außerhalb eines solchen Abkommens bleiben könnten“, wie die Kyiv Post berichtet. „Wenn wir die heiße Phase des Krieges beenden wollen, sollten wir das Territorium unter den Schutzschirm nehmen, das wir unter Kontrolle haben“, sagte Selenskyj zu Sky News. „Das müssen wir schnell tun. Und dann kann die Ukraine die anderen Gebiete diplomatisch zurückerlangen.“
Allerdings sperren sich gerade die wichtigen Nato-Staaten USA und Deutschland dagegen, einen schnellen Pfad für die Ukraine in das westliche Bündnis festzulegen. Auch die bisher aus der künftigen US-Regierung von Donald Trump bekanntgewordenen Pläne sehen für Kiew keinen Beitritt vor, wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtet. Russland lehnt eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine rundweg ab.
Im Juli hatte Selenskyj auf dem Nato-Gipfel in Washington seine Forderung nach einem Nato-Beitritt zuletzt bekräftigt – und war dort gescheitert, obwohl die militärische Lage dort noch besser für ihn aussah. „2008 hieß es in der Abschlusserklärung des Gipfels in Bukarest: ,Die Ukraine wird Nato-Mitglied werden‘“, schreibt Nickolay Kapitonenko für den deutschen Thinktank Friedrich-Ebert-Stiftung. Der Gipfel in Vilnius 2023 beinhaltete die Formulierung: „Die Zukunft der Ukraine liegt in der Nato“. „Den Unterschied muss man mit der Lupe suchen“, sagt der ukrainische Politikwissenschaftler am Institut für Internationale Beziehungen an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew. Die Differenz erzwinge der Kontext.
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Der ehemalige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wünschte sich einen Beitritt der Ukraine zum Verteidigungsbündnis innerhalb des nächsten Jahrzehnts, wie er der dpa in diesem Jahr sagte. „Ich hoffe sehr, dass die Ukraine ein Verbündeter sein wird.“