Russland hat beim Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkrieges nichts verloren

Wenn in Russland in diesen Tagen an das Ende des Zweiten Weltkrieges erinnert wird, geht es nicht um die Mahnung „Nie wieder Krieg“. Die Paraden und Aufzüge dienen vielmehr dem genauen Gegenteil: Die Gedenkfeiern verherrlichen den Krieg gegen Deutschland, um der Bevölkerung den Kampf gegen die Ukraine schmackhaft zu machen.

Am „Tag des Sieges“, wie in Russland das Kriegsende genannt wird, werden in Moskau deshalb keine Friedenstauben aufsteigen. Stattdessen fahren Panzer und Raketen auf und Tausende Soldaten defilieren im Gleichschritt vor dem russischen Präsidenten. Die Militärparade, die mit dem Marsch „Der heilige Krieg“ eröffnet wird, dient Wladimir Putin dazu, nach Innen und Außen Stärke zu demonstrieren.

Russland missbraucht Weltkriegsgedenken für seinen Krieg gegen die Ukraine

Wie Russland das Weltkriegsgedenken für seinen Krieg gegen die Ukraine missbraucht, konnte man bereits im vergangenen Jahr studieren. Das ganze Land verneige sich vor der Standhaftigkeit und Selbstaufopferung der russischen Soldaten in der Ukraine, erklärte Putin bei der Parade. „Unsere Veteranen glauben an euch und sind um euch besorgt. Ihre geistige Anteilnahme an euren Schicksalen und Taten verbindet untrennbar die Generation der Helden des Vaterlandes.“

Das Moskauer Streitkräftemuseum ging sogar so weit, Schulkinder für Putins Propaganda einzuspannen. Unter der Fahne, die Rotarmisten 1945 auf dem Berliner Reichstag hissten, mussten sie Briefe an die kämpfenden Truppen in der Ukraine in einen Feldpostbriefkasten werfen. „Vielen Dank für Ihren Mut und Ihre Tapferkeit,“ hatte ein Mädchen einem Soldaten geschrieben, „vielen Dank für alles, was Sie tun.“

Über den Autor

Hubertus Knabe ist einer der bekanntesten Historiker Deutschlands. Er war 18 Jahre wissenschaftlicher Direktor der Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Heute arbeitet er am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg. 

Bei alledem kommt dem russischen Botschafter in Deutschland, Sergei Netschajew, eine besondere Rolle zu. Er liefert dem heimischen Publikum die Bilder der Originalschauplätze, um Putins Propaganda noch wirkungsvoller zu machen. Wenn er mit ernstem Gesicht an den Seelower Höhen (Brandenburg) einen Kranz niederlegt, soll das den Russen Siegesgewissheit vermitteln und zugleich das Feindbild Deutschland wiederbeleben.

Wer denkt, es ginge dabei um Trauer für die Toten, hat wenig von Russland verstanden

Wer denkt, es ginge dabei um Trauer für die Toten, hat wenig von Russland verstanden. Das Schicksal der eigenen Soldaten hat dessen Führer noch nie interessiert. Für sie ist Krieg, wie man in Putins Reich sagt, ein „Fleischwolf“, in den die eigenen Landsleute nach Belieben hineingeworfen werden können. Auf den meisten sowjetischen Kriegsgräberstätten stehen nicht einmal die Namen der Gefallenen.

Stattdessen dienen die Toten als Staffage, um zu neuen kriegerischen Taten aufzurufen. Oft stehen auf ihren sterblichen Überresten riesige Statuen triumphierender Rotarmisten oder sie werden, wie in Berlin, mit Panzern dekoriert. Selbst auf den Gräbern der Opfer wird der Krieg verherrlicht.

Die russische Historikerin Irina Scherbakowa hat einmal beschrieben, wie sehr ihr im Krieg verletzter Vater unter dieser zynischen Heroisierung litt. Jedes Jahr am 9. Mai riefen Journalisten bei ihm an, um eine Heldenstory zu schreiben. Von der Grausamkeit des Krieges wollten sie dagegen nichts wissen.

Zielstrebig wird Geschichte des Weltkrieges umgeschrieben

Doch nicht nur das Gedenken wird unter Putin ins Gegenteil verkehrt. Zielstrebig wird die gesamte Geschichte des Weltkrieges umgeschrieben. So begann der „Große Vaterländische Krieg“ nach seiner Lesart nicht 1939, sondern erst zwei Jahre später, als die Wehrmacht in die Sowjetunion einmarschierte. Unter den Tisch fällt, dass sich Stalin zuvor mit Hitler verbündet hatte und mit ihm in Polen einmarschiert war. In Brest hielten beide Armeen sogar eine gemeinsame Siegesparade ab und Stalin annektierte mehr polnisches Terrain als die Deutschen.

Gleichwohl bestritt Putin 2020 jede Mitschuld der Sowjetunion am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Stattdessen erklärte er in einem prominent platzierten Artikel das angegriffene Polen für mitverantwortlich. Und über die anschließende Annexion der baltischen Staaten schrieb er: „Ihr Beitritt zur UdSSR erfolgte auf vertraglicher Basis, mit Zustimmung der gewählten Behörden.“ Dass die Rote Armee auch noch Finnland und Rumänien überfiel, fiel ganz unter den Tisch.

Die Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg zu schreiben, kann in Russland inzwischen mit fünf Jahren Zwangsarbeit bestraft werden. Die öffentliche „Beleidigung des Andenkens der Verteidiger des Vaterlandes“ ist seit März 2021 eine Straftat. Dasselbe gilt für die „Verbreitung von Informationen, die eine offensichtliche Respektlosigkeit gegenüber der Gesellschaft über die Tage des militärischen Ruhms und denkwürdige Daten Russlands im Zusammenhang mit der Verteidigung des Vaterlandes zum Ausdruck bringen.“

Stalin ließ vor dem Krieg Großteil seiner Armeeführung umbringen

Als „Respektlosigkeit“ könnte ein Gericht zum Beispiel werten, darauf hinzuweisen, dass Stalin vor dem Krieg den Großteil seiner Armeeführung selber umbringen ließ. Rund 30.000 höhere Offiziere fielen seinen Säuberungen zum Opfer. Allein fünfzig der 57 Kommandierenden Generäle wurden Ende der 1930er Jahre erschossen.

Auch wer in Erinnerung ruft, dass 1941 Hunderttausende Rotarmisten zu den Deutschen überliefen, steht mit einem Bein im Gefängnis. Dabei hatte schon Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow erklärt, dass die enormen Verluste der Roten Armee oft selbst verursacht waren. Weil Stalin alle Warnungen vor dem deutschen Angriff ignorierte, habe der Feind „eine große Zahl unserer militärischen Kader“ vernichtet, so Chruschtschow. Auch später habe er häufig Befehle gegeben, die die wirkliche Lage „nicht berücksichtigten und nur zu gewaltigen Menschenverlusten führen mussten.“

Dass zahllose Rotarmisten von den eigenen Leuten erschossen wurden, wird in Russland ebenfalls verschwiegen. Sogenannte Blockadeeinheiten sollten auf diese Weise verhindern, dass die sowjetischen Truppen vor der Wehrmacht zurückwichen. 1941/42 starben genauso viele Generäle durch die Hand der Sowjets wie durch die der Deutschen.

Ein absolutes Tabu sind die Gräueltaten der Roten Armee

Ein absolutes Tabu sind schließlich die Gräueltaten der Roten Armee beim Einmarsch in Deutschland. Schätzungen zufolge wurden damals 1,9 Millionen Frauen und Mädchen vergewaltigt, viele davon mehrfach. Zehntausende Zivilisten wurden erschossen, fast 300.000 in Arbeitslager verschleppt. Bei ihrer Flucht oder Vertreibung kamen mindestens 500.000 Deutsche ums Leben.

Wer denkt, dass die Rote Armee 1945 wenigstens die sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter befreit hätte, sollte sich besser informieren. Sie wurden ausnahmslos erneut festgenommen. Fast eine Million kam als „Vaterlandsverräter“ in sibirische Arbeitslager, in denen ein Viertel bis ein Drittel starb.

Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus befremdlich, wie auch hierzulande Putins Geschichtsklitterung unterstützt wird. Fast alle östlichen Bundesländer haben den 8. Mai inzwischen, wie früher in der DDR, zum „Tag der Befreiung“ erklärt. In der deutschen Hauptstadt ist er in diesem Jahr sogar arbeitsfrei. Und im Vorstand des Berliner Kapitulationsmuseums sitzt weiterhin das russische Verteidigungsministerium, während die Kriegsverbrechen der Roten Armee unter den Teppich gekehrt werden.

Einige Politiker scheinen es darauf anzulegen, Putin als Statisten zu dienen

Einige Politiker scheinen es in diesen Tagen sogar darauf anzulegen, Putin als Statisten zu dienen. Die Gemeinde Seelow und die Stadt Torgau organisierten Gedenkveranstaltungen und schickten der russischen Botschaft dafür eine Einladung. AfD-Chef Tino Chrupalla forderte sogar, Botschafter Netschajew reden zu lassen. Als Begründung führte er an, man könne ja mit ihm bei der Kranzniederlegung über einen Frieden in der Ukraine verhandeln.

Es wird Zeit, sich einzugestehen, dass Russland die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg gezielt dafür missbraucht, neue Kriege zu rechtfertigen. Die Ukraine und die baltischen Staaten – die ebenfalls Teil der Sowjetunion waren – gehen deshalb schon länger nicht mehr zu den Veranstaltungen. 

Für sie ist geradezu zynisch, gemeinsam mit Putins Botschafter der Toten zu gedenken. Auch die Deutschen, denen Russland bereits mehrfach mit Bombenangriffen gedroht hat, müssen begreifen: Ein Land, das seine Nachbarn mit Krieg überzieht und täglich Dutzende Menschen in den Tod schickt, hat beim Weltkriegsgedenken in Deutschland nichts verloren.