Kladde von 1937 inspiriert Christian Hof, für persönliche Verantwortung in der Gegenwart zu werben – Ausstellung in Kempten

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Christian Hof vor seinem Bild ohne Titel, aber mit einem Untertitel: „Beware of advice from experts, pigs, and members of Parliament.“ Im Originalzitat von Jim Henson stehen zwei kurze Sätze davor: „Always be yourself. Never take yourself to seriously.“ © Fischer

Christian Hof öffnet nach 17 Jahren eine verschlossene Kladde – und lädt mit seiner Ausstellung „Einsicht“ zur kritischen Selbstreflexion ein.

Kempten – 17 Jahre lang verweigerte er sich selbst und der Öffentlichkeit die Einsicht in eine Kladde aus dem Jahre 1937. Jetzt hat er seine Meinung geändert, in der Hoffnung, Menschen dadurch zur Einsicht zu bewegen. Christian Hof, der 2014 das Gefühl hatte, alles „auserzählt“ zu haben und aufhörte, aktiv Kunst zu schaffen, zeigt jetzt wieder eine Einzelausstellung mit dem Titel „Einsicht“ in der Galerie „Kunstreich“.

Florian Illies‘ „1913: Der Sommer des Jahrhunderts“, erschienen 2012 bei S. Fischer, steht am Anfang einer ganzen Reihe von Fachbüchern, die versuchen, die damalige Zeit durch die Brille der Zeitgenossen zu verstehen, konzentriert auf ein Kalenderjahr. Ebenfalls 2012 fand die Ausstellung „Das Leben der Zeit“ von Christian Hof im Kornhaus-Kellergewölbe statt, die in Bezug zum Jahr 1937 ein ähnliches Ziel hatte.

1937: Schlüsseljahr für die Kunst

Aus künstlerischer Sicht handelt es sich um ein Schlüsseljahr: Die erste „Große Deutsche Kunstausstellung“ im Münchner Haus der Deutschen Kunst und die gleichzeitig in den nahen Hofgartenarkaden laufende diffamierende Schau „Entartete Kunst“, aber auch das auf der Pariser Weltausstellung erstmalig präsentierte Picasso-Bild „Guernica“ gelten dafür als wichtige Marksteine. Hofs Medium, sich dem Leben der Menschen von damals zu nähern, waren keine Texte, sondern Alltagsgegenstände, die er während seiner Recherchen bei Ebay ersteigerte.

Unter dem Titel „Datensicherung (analog)“ gehörte die Kladde (‚Schmierheft‘) bereits damals zur Ausstellung, allerdings sorgfältig verschlossen in einem Plexiglaskasten. „In der Vergangenheit zu wühlen, löst keine Probleme in der Gegenwart, war damals mein Ansatz“, erzählt er heute. Um die Wahrung der Privatsphäre von Verfassern historischer Hinterlassenschaften einzufordern, verbrannte er unter dem Motto „Formatierung (analog)“ private Fotos aus einem 1937 erstellten Fotoalbum vor laufender Kamera.

Die Kladde hatte er 2008 auf Ebay entdeckt. Nachdem das Angebot mitten im Versteigerungsverfahren von der Plattform genommen worden war (wahrscheinlich wegen der Hakenkreuze auf den veröffentlichten Abbildungen), begab sich Hof im Internet auf die Suche nach dem Verkäufer und wurde bei einer Kontaktbörse fündig. Schließlich konnte er das Zeitdokument für 1.400 Euro erwerben. In den bisherigen Ausstellungen zeigte er immer nur die Fotos von den Seiten, die der Ebay-Bieter im Internet veröffentlichte, der Rest blieb unter Verschluss.

Eine andere Welt

„Die Welt hat sich seitdem verändert“, betont Hof. Das Umdenken begann bei ihm 2022, als Russland mit dem Krieg gegen die Ukraine anfing. Drei Jahre später sägte er den Kasten auf und begann zu lesen. Gleich der Titel des ersten eingeklebten Zeitungstextes schaffte die Brücke zur Gegenwart: „Die Welt in Aufruhr und Blut“.

Beim Lesen fand er ständig Stellen, die etwas mit seinem eigenen Leben zu tun haben: „Bei Schaller kaufte ich oft Platten. Für die AÜW habe ich gearbeitet. Auch ich wohnte in einem Haus der Baugenossenschaft ...“ Er habe das Gefühl gehabt, dem eigenen Alter Ego in der Vergangenheit begegnet zu sein, allerdings mit einer ganz anderen politischen Einstellung. Hof begann, mit Hilfe aus der Familie die handschriftlichen Einträge zu entziffern und Hintergrund­informationen zu sammeln.

Christian Hof zeigt bis 9. November die Ausstellung „Einsicht“ in Kempten

Im ersten Teil der Ausstellung im „Kunstreich“ präsentiert er auf Holztafeln thematisch und chronologisch geordnet in Kopien die Blätter des 100-seitigen Dokuments, ergänzt durch die abgetippte „Übersetzung“ der handschriftlichen Stellen und durch Informationen, die allesamt aus Presse- und Fachpublikationen stammen. Hof verzichtet auf eigene Texte, seine persönlichen Reflexionen findet man ausschließlich in seinen Kunstwerken, die in der zweiten Hälfte der Ausstellung zu sehen sind. Er ist überzeugt: „Es ist gut, den ungefilterten Blick auf die Zeit zuzulassen.“

In die Kladde klebte der damalige Verfasser Zeitungsartikel aus dem Allgäuer Tageblatt, der Bayerischen Zeitung und der Süddeutschen Sonntagspost ein, manche kommentierte er. Andere Anmerkungen beziehen sich auf seine Familie, berichten über Fahrten und Besuche. Bei den Todesanzeigen weist er auf seine Verbindungen zu den Verstorbenen hin.

Man identifiziert am laufenden Band Kemptener Orte. Geschäfte, von denen er Quittungen aufhob, kennt man heute noch. Seine Kommentare zu eingeklebten Klatschnachrichten, die zum Teil offensichtlich auf „Fake News“ basieren, ähneln gespenstisch heutigen Hetzkommentaren in den Sozialen Medien.

Die Atmosphäre erinnert an die ersten von Bürgerinitiativen erstellten Ausstellungen über die NS-Zeit, wie die im Innenraum der Zeppelintribüne in Nürnberg ab Mitte der 1980er Jahre („Faszination und Gewalt“): Die einfache Gestaltung, der Verzicht auf moderne Mittel der Ausstellungstechnik zwingen die Besucher, sich auf die Texte und Bilder des Zeitdokuments zu konzentrieren. Das hatte damals und hat auch heute eine finanzielle Komponente. Hof verzichtete auf Zuschüsse mit der Begründung: „Ich finde, Demokratie ist die Sache von persönlichen Einstellungen und nicht von Fördertöpfen.“ Er wollte nicht, dass die Ausstellung mit einer Institution in Zusammenhang gebracht wird.

Voyeuristischer Blick

Wer sich darauf einlässt, spürt aber schnell einen Sog, der einen nicht so schnell loslässt. Wie ein Voyeur bekommt man, durch das kleine „Guckloch“ der Kladde, einen intimen Blick in den Kopf eines 72-jährigen Mitläufers. Man lernt die Gedanken und Gefühle eines ewigen Nörglers kennen, eines glühenden Nationalisten und Antisemiten, der nur dann positiv wird, wenn es um die Erfolge des Nationalsozialisten und um die NS-Aktivitäten seiner Familienmitglieder geht. Aber auch das hat seine Grenzen, wenn es seinen eigenen Geldbeutel angeht. Der Leser bekommt mit, dass der Autor in den prominenten Kreisen der Stadt verkehrt, im Historischen Verein aktiv ist, sich für Kunst interessiert. Nur seinen Namen erfährt man nicht.

Wie hätte ich mich damals verhalten? Wie verhalte ich mich heute?

„Ich will nicht, dass die Person im Vordergrund steht“, begründet Hof seine Entscheidung. Was er will, verrät der Titel des letzten Ausstellungsstücks im ersten Stock: „Freiwillige Selbstkontrolle“. „Ich mache das Angebot, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.“ Ihn beschäftige intensiv die Frage: Wie hätte ich mich verhalten? Und wenn man Kermit mit braunem Anzug am Mikrophon auf dem Bild an der Treppe (s. Foto) sieht, muss man sich die Frage stellen: Wie verhalte ich mich heute?

Die Vernissage findet am Freitag, 10. Oktober, um 20 Uhr statt. Die Ausstellung ist bis zum 9. November dienstags von 16 bis 20 Uhr, samstags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei.

Feste, Konzerte, Ausstellungen: Was man in Kempten und Umgebung unternehmen kann, lesen Sie im Veranstaltungskalender.

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