Brennpunkt Schule: Warum eine Migrationsquote nicht der richtige Weg ist

FOCUS online: Die Leistungen der Schüler in Deutschland lassen nach – und in manchen Klassen ist wegen zu schlechter Deutschkenntnisse kaum normaler Unterricht möglich. Bildungsministerin Karin Prien hält eine Obergrenze für Kinder mit Migrationshintergrund in für ein „denkbares Modell“, um dem Problem zu begegnen. Wie finden Sie den Vorschlag?

Kai Maaz: Mich hat irritiert, wie Priens Aussagen verkürzt und zugespitzt wurden.

Warum?

Maaz: Sie hat beim „Politikergrillen“ nicht direkt gesagt, dass wir Migrationsquoten in Schulen brauchen. Es ging um andere Themen, etwa frühsprachliche Bildung und den Fachkräftemangel beim Lehrpersonal. Letztlich hat der Moderator die Obergrenze für Kinder mit Migrationshintergrund immer wieder ins Spiel gebracht. Ich würde Priens Antwort nicht als Aufforderung verstehen.

Sie klingen ernüchtert.

Maaz: Das bin ich auch. Die Debatte wird verzerrt geführt. Über den Vergleich mit Dänemark, der im Gespräch mit der Ministerin aufkam, kann ich nur den Kopf schütteln. Eine generelle Obergrenze für Kinder mit Migrationshintergrund gibt es dort nicht. Es ging um ein umstrittenes Stadtentwicklungsprogramm – nicht um eine generelle Migrationsquote im Bildungsbereich. Wenn überhaupt, gibt es einen mittelbaren Bezug zu Bildung. Einige Regionen oder Schulen haben in der Tat Quoten eingeführt.

Trotzdem: Was halten Sie von einer Migrationsquote an deutschen Schulen?

Maaz: Gar nichts. Die Idee widerspricht der sozialen Realität in Stadtteilen und Kommunen. In vielen Schulen liegt der Anteil bei über 70 Prozent. Eine künstlich gesetzte Quote wäre realitätsfern und organisatorisch kaum zu bewältigen.

"Kinder würden aus ihren sozialen Räumen herausgerissen werden"

Warum?

Maaz: Migration ist kein einheitliches, sondern ein hochdifferenziertes Merkmal – es sagt wenig über Sprachstand oder Bildungsnähe aus. Die Herkunftsländer sind divers, ebenso wie die Sprachen, Kulturen und Religionen. Außerdem geht es bei der Debatte hauptsächlich um Deutschkenntnisse. Dabei gibt es Kinder mit Zuwanderungsgeschichte, die einwandfrei Deutsch sprechen – und zugleich Kinder ohne Migrationshintergrund mit erheblichen sprachlichen Defiziten. 

Welche unmittelbaren Folgen hätte eine Migrationsquote für unsere Schulen denn?

Maaz: Stellen Sie sich einen Stadtteil mit 70 oder 80 Prozent Zuwandereranteil vor. Sie müssten große Gruppen von Kindern in andere Bezirke fahren. Die Kinder würden aus ihren sozialen Räumen herausgerissen werden. Und betroffen wären auch Kinder aus privilegierten Familien ohne Migrationshintergrund, die abseits der Brennpunkt-Gegenden wohnen und die man auf andere Schulen verteilen müsste.

Das könnte für Zündstoff sorgen.

Maaz: Genau. Der letzte Punkt zeigt auch, dass der Vorschlag nicht zu Ende gedacht wurde. Wie gesagt: Eine Migrationsquote in der Schule wäre mit einem enormen organisatorischen Aufwand verbunden, sie ist praktisch nicht umsetzbar, pädagogisch nicht sinnvoll und menschlich fragwürdig. 

Also ein klares Nein zur Migrationsquote.

Maas: Ein System, das auf Ausgrenzung basiert, kann keine Zukunft haben. Wir müssen uns klarmachen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass Zuwanderung zu unserem Gesellschaftsbild gehört.

"Entscheidend sind sozioökonomische Faktoren, nicht die regionale Herkunft"

Ein Argument, das immer wieder von Befürwortern der Migrationsquote genannt wird, ist, dass Kinder mit Migrationsgeschichte für ein geringeres Lernniveau in deutschen Schulklassen sorgen. Stimmt das?

Maaz: Nein. Warum sollte es? Auch in Klassen ohne Kinder mit Migrationshintergrund treten Leistungsprobleme auf. Entscheidend sind sozioökonomische Faktoren – nicht die regionale Herkunft. Häufig fehlt in den betroffenen Familien das Bewusstsein dafür, wie wichtig Bildung ist. Oft stehen hinter Problemen nicht Merkmale, die sich auf die Migration beziehen, sondern auf den sozialen Hintergrund der Familie. 

Der Bildungsforscher Andreas Schleicher sieht das offenbar anders. Er sagt: „Wir wissen aus unseren Vergleichsstudien, dass die Konzentration von Schülern mit Migrationshintergrund ein ganz entscheidender Faktor für Schulleistungen ist. Das heißt, Bildungssysteme, die Schüler mit Migrationshintergrund gleichmäßig verteilen, haben einen ganz entscheidenden Vorteil.“

Maaz: Ja, wenn ich eine Grundschulklasse habe, in der die Mehrheit der Kinder nicht hinreichend die Instruktionssprache des Unterrichts versteht, dann wirkt sich das negativ auf die schulischen Leistungen aus. Aber nicht, weil die betroffenen Kinder weniger begabt sind, sondern weil sie dem Unterricht sprachlich nicht folgen können. 

Das muss auch für die Schüler schwierig sein.

Maaz: Natürlich ist es überfordernd für Kinder, wenn sie in eine Klasse kommen und kein Deutsch sprechen. Sie verstehen nichts, die Lehrperson dringt nicht zu ihnen durch und ihre Familien verzweifeln, weil sie mit dem System nicht zurechtkommen. Das rechtfertigt für mich dennoch keine Migrationsquote in Schulen.

Sondern?

Maaz: Wir müssen kluge Formen finden, wie wir mit Vielfalt umgehen. Zentral sind die sozialen Hintergründe und Problemlagen, mit denen Kinder aufwachsen. Darauf muss der schulische Kontext Antworten geben – statt die Diskussion auf ein Merkmal zu verengen, das in der Praxis höchst unterschiedlich erscheint.

Brauchen wir einen "Brennpunkt-Deckel" statt einer Migrationsquote?

Wenn der sozioökonomische Hintergrund die wichtigere Rolle spielt, wäre dann nicht ein „Brennpunkt-Deckel“ sinnvoller als eine Migrationsquote?

Maaz: Eine Quote für Kinder aus bildungsfernen Haushalten ist in meinen Augen genauso wenig vereinbar mit dem Grundgesetz wie eine Obergrenze für Kinder mit Migrationshintergrund, zumal Wohnlagen und soziale Räume sich nicht per Verordnung auflösen lassen. Allerdings: Schulen mit multiplen Herausforderungen mit anderen Schulen zu fusionieren, wie in Berlin geschehen, kann sinnvoll sein.

Inwiefern?

Maaz: Eine stark ausdifferenzierte Schulstruktur im Sekundarschulsystem ist anfällig für die Herausbildung von Schulen, in denen sich alle Herausforderungen des Systems kumulieren. So war es in Berlin bis zur Schulstrukturreform 2010 - mit vier bis fünf parallelen Schulformen. Sind nur zwei Schulformen vorgesehen, ist das System zwar nicht davor gefeit, aber wesentlich unempfindlicher.

So richtig überzeugt klingen Sie aber nicht.

Maaz: Bin ich auch nicht. Es ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wer ernsthaft gegensteuern will, muss Bildungspolitik im Zusammenhang mit anderen Bereichen sehen – etwa Wohnraum- und Sozialpolitik.

Maaz
Kai Maaz hält von einer Obergrenze für Kinder mit Migrationshintergrund in deutschen Schulklassen nichts. © fotorismus für DIPF

Über den Interviewpartner

Kai Maaz ist ein deutscher Bildungsforscher. Er ist Geschäftsführender Direktor am DIPF - Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Außerdem arbeitet Maaz als Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Bildungssysteme und Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Zurück zum Anfang. Wie können wir die Lage an unseren Schulen mit Blick auf Sprachkenntnisse verbessern?

Maaz: Wissenschaftliche Befunde zeigen: Wenn wir frühzeitig den Sprachstand der Kinder testen, Förderbedarfe identifizieren und geeignete Unterstützung anbieten, können wir eine gute Grundlage schaffen.

Das klingt sehr abstrakt.

Maaz: Wichtig wäre, Strukturen in Kitas und Grundschulen aufzubauen, um Kinder in ihrer sprachlichen, aber auch sozialen und emotionalen Entwicklung zu unterstützen. Gerade der frühkindliche Bereich sollte nicht nur der Betreuung, sondern auch der Bildung dienen. Sprachbildung ist kein Zusatzangebot, sie ist integraler Bestandteil pädagogischer Qualität, gerade auch in den Kitas. 

Aha.

Maaz: Sie gelingt nur, wenn pädagogische Fachkräfte dafür qualifiziert sind und die strukturellen Bedingungen passen: Es unter anderem kleinere Gruppen gibt, ausreichend Zeit, eine reflektierte Haltung und kommunikative Kompetenz. Letztlich heißt verlässliche Sprachförderung auch, das System zu befähigen.

Hamburg als Bundesland, von dem andere sich etwas abschauen können 

Was Sie vorschlagen, klingt gut. Aber der Fachkräftemangel betrifft auch Schulen und Kitas. Prien hatte darauf hingewiesen.

Maaz: Die Geburtenzahlen gehen zurück. In manchen ostdeutschen Bundesländern suchen Kitas händeringend Kinder. Das wird sich über die Jahre „durchwachsen“ bis in die Schulen. Mit Verzögerung wird eine solche Entwicklung auch in westdeutschen Bundesländern zu beobachten sein. Sie bietet eine Chance, um bessere, individuelle Lerngelegenheiten zu schaffen.

Was können wir insgesamt Positives aus der Debatte um Prien mitnehmen?

Maaz: Es gibt wieder Diskussionen um nötige Änderungen im Bildungssystem. Aber wir dürfen nicht nur über Symptome sprechen. Wir brauchen ein gemeinsames Ziel: gerechte Bildungschancen von Anfang an. 

Das beginnt in der Kita und reicht weit über Schulpolitik hinaus – hin zu einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Die vergangenen 25 Jahre haben gezeigt, dass nicht jedes Bundesland allein arbeiten sollte. Es geht nicht darum, die föderale Struktur infrage stellen, sondern, sondern ins Gespräch zu kommen, voneinander zu lernen und gemeinsame Lösungen zu finden.

Welche Bundesländer könnten denn Vorbilder sein?

Maaz: Hamburg zum Beispiel führt  mit den "Kermit"-Erhebungen engmaschige Lernstandserhebungen mit einer Individualkennung der Schüler durch. Daraus lassen sich die Lernfortschritte einzelner Schüler, aber auch ganzer Klassen ableiten, einschließlich gezielter individueller Förderungen. 

Außerdem überprüft Hamburg seit Jahren im „Vorstellungsverfahren für Viereinhalbjährige“ die sprachlichen Fähigkeiten, und wenn sich Probleme auftun, muss das jeweilige Kind eine Vorschulklasse oder Kita mit zusätzlicher Sprachförderung besuchen. 

Diese frühe Intervention ist mitverantwortlich für die positiven Entwicklungen in den Vergleichsstudien. Der Blick in die föderale Struktur ist erforderlich, denn letztlich darf Bildungspolitik nicht zur symbolpolitischen Stellschraube werden – wir brauchen realistische, umsetzbare Lösungen, die jedes Kind dort abholen, wo es steht – unabhängig von Herkunft, Sprache oder sozialem Status.