Immer mehr Wahlbefürworter - Bei den Ukrainern kippt die Stimmung gegen Selenskyj: „Jetzt reicht es“
Der ukrainische Unterleutnant Wjatscheslaw Kurbanow will in die Politik gehen. Mitten im Krieg – obwohl er laut eigener Aussage früher ein „apolitisches Wesen“ war.
Das Manifest für die Partei, die Kurbanow gründen will, hat er zwischen mehreren Kampfeinsätzen verfasst. Jetzt sucht er in sozialen Netzwerken nach Gleichgesinnten.
Ihn treibe die Unzufriedenheit mit der Regierung und Präsident Wolodymyr Selenskyj an, erzählt Kurbanow, der sich Anfang 2022 als Freiwilliger für die Front gemeldet hatte. Damals hatte Russland gerade die Vollinvasion gegen sein Land begonnen.
Einige sorgen sich um die Demokratie
Vor lauter Motivation habe er damals nicht bemerkt, wie groß die Mängel in der Staatsverwaltung seien, erinnert sich der 53-Jährige. Dass es zum Beispiel bei der Mobilisierung neuer Soldaten große Probleme gebe. Heute sehe er vieles klarer. „Wir haben das lange geduldet, aber jetzt reicht es“, sagt Kurbanow.
Wahlen im Krieg sieht das ukrainische Gesetz nicht vor. Deshalb ist Präsident Wolodymyr Selenskyj weiter legitimer Staatschef seines Landes, obwohl seine Amtszeit unter normalen Umständen im vergangenen Mai abgelaufen wäre. Auch Parlamentswahlen erlaubt die ukrainische Verfassung in Kriegszeiten nicht.
Lange war es geradezu ein Tabu, über das Thema auch nur zu diskutieren. Zuerst müsse der äußere Feind besiegt werden – darin waren sich Politiker und Bürger einig. Die Lösung innenpolitischer Probleme müsse warten.
Doch je länger sich der Krieg hinzieht, desto mehr sorgen sich einige Ukrainerinnen und Ukrainer: Sind diese Einschränkungen – so berechtigt sie auch sein mögen – wirklich mit ihrer Demokratie vereinbar? Droht nicht schlimmstenfalls ein Abrutschen ins Autoritäre, wenn sich die Macht über einen langen Zeitraum in den Händen des immer selben Präsidenten befindet?
Gehen Wahlen im Krieg überhaupt?
Selenskyj und seinem Umfeld kommt diese Debatte nicht gelegen. Bei der Vorstellung des Resilienzplans im Parlament beschimpfte Selenskyj diejenigen, die eine Änderung der geltenden Gesetze und Wahlen fordern, als „machthungrig“, als Gefährder der nationalen Einheit. Er betonte: Die Organisation eines echten Wahlkampfs sei mitten im Krieg nicht machbar.
Ein weiteres Argument lautet: Es sei momentan schlicht unmöglich, die Sicherheit der Menschen während eines Urnengangs zu gewährleisten.
„Diese Wahlen wären schrecklich. Es ist absolut nicht machbar, die Demokratie inmitten von Beschuss durch Shahed-Drohnen und Raketen zu sichern“, sagte kürzlich etwa Olexander Kornijenko, stellvertretender Parlamentspräsident, in einem Interview. Kornijenko verwies zudem darauf, dass viele Geflüchtete und Soldaten wohl nicht an der Abstimmung teilnehmen könnten.
Im Jahr 2023 herrschte in der Gesellschaft noch Euphorie: Alle warteten auf den schnellen Sieg, der ihnen von der Staatsführung versprochen wurde.
Wahlbefürworter wie Wjatscheslaw Kurbanow lassen das nicht gelten. Sie argumentieren: Wenn ein politischer Wille da wäre, dann könnten die entsprechenden Gesetze geändert werden, die Urnengänge im Krieg derzeit verbieten.
Zudem sei der elektronische Bürgerservice der Ukraine namens „Dija“ einer der fortschrittlichsten in Europa. „In jedem Schützengraben gibt es Starlink-Internet“, sagt Kurbanow. „Es ist also durchaus realistisch, die elektronische Stimmabgabe in der Armee – ebenso wie unter Geflüchteten – zu organisieren.“
Anteil der Wahlbefürworter wächst
Laut einer Umfrage der Meinungsforschungsgruppe „Rating“ gehört Kurbanow mit seinen Forderungen zwar weiter einer Minderheit im Land an. Demnach sprechen sich 60 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer gegen eine Abhaltung von Präsidenten- und 52 Prozent gegen eine Abhaltung von Parlamentswahlen ab, solange der Krieg nicht beendet ist.
Doch der Wert ist in den vergangenen Monaten immer weiter gesunken. „Im Jahr 2023 herrschte in der Gesellschaft noch Euphorie: Alle warteten auf den schnellen Sieg, der ihnen von der Staatsführung versprochen wurde“, sagt der Soziologe Jewhen Holowacha dem Tagesspiegel.
Mittlerweile aber nehme die Unzufriedenheit mit der Regierung zu, führt der Experte aus. „Dementsprechend sinkt auch die Zahl derjenigen, die sich gegen Wahlen während des Kriegs aussprechen.“
Noch sei dieser Trend nicht dramatisch, aber er könnte sich verstärken, sagt Holowacha. „Wir haben – und hatten schon immer – eine große Gruppe von Bürgern, die gegenüber jeder amtierenden Regierung grundsätzlich kritisch eingestellt ist.“
Insbesondere in den ersten Kriegsmonaten seien diese Stimmen durch den großen äußeren Feind Russland weitgehend verstummt. Das Argument, dass innerukrainischer Streit Kremlchef Wladimir Putin in die Hände spielen würde, überzeugte auch sie. Doch dieser Effekt nimmt ab, die Forderungen nach politischen Reformen werden wieder lauter.
2025 könnte Wende bringen
Wann auch immer der nächste Wahlkampf in der Ukraine abgehalten werden wird: Es wird eine angespannte Situation sein, prognostiziert der Politologe Witalij Kulyk. Viele neue Akteure werden in die Politik strömen, darunter Aktivisten und Freiwillige, die im Krieg gesellschaftlichen Ruhm erworben haben.
„Und natürlich Militärs“, fügt Kulyk hinzu. Einige Profipolitiker werden dann wohl gezielt nach Menschen in Camouflage-Kleidung suchen, die sich gut auf ihren Wahlzetteln machen, glaubt er.
Der Wissenschaftler hält es nicht für ausgeschlossen, dass es schon im kommenden Jahr so weit sein könnte. Er verweist auf den Machtantritt Donald Trumps in den USA, der angekündigt hat, den Krieg in der Ukraine schnell beenden zu wollen – auf welchem Weg auch immer.
Kulyks Beobachtungen zufolge nehmen viele Parteien schon jetzt eine Inventur ihrer Ressourcen vor, mobilisieren Regionalbüros und suchen neue Mitarbeiter.
Außerdem sind im Parlament bereits mehrere Entwürfe für ein neues Gesetz über die ersten Nachkriegswahlen aufgetaucht. Auffällig ist: All diese Entwürfe stammen von Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“.
Obwohl Selenskyjs Beliebtheitswerte sinken, habe „Diener des Volkes“ ein Interesse daran, die Wahlen nach einem Kriegsende nicht aufzuschieben, sondern sie bei der ersten Gelegenheit abzuhalten, erklärt Kulyk: „Eine solche Blitzwahl verschafft den Machthabern Vorteile. Denn die Opposition und neue politische Akteure haben dann schlicht keine Zeit, ihren Wahlkampf voll zu entfalten.“
Ob Selenskyj für eine zweite Amtszeit kandidieren möchte, hat er bislang offengelassen. Vermutlich wird seine Entscheidung auch davon abhängen, wie es an der Front weitergeht, wo die Lage aus Kyjiwer Sicht seit Wochen dramatisch ist.
Und davon, welche Bedingungen er für sein Land aushandeln kann, wenn dieses tatsächlich zu einem Einfrieren der Front gedrängt wird.
Von Valeriia Semeniuk
Das Original zu diesem Beitrag "Wunsch nach Wahlen trotz Krieg: In der Ukraine wächst der Unmut an Selenskyjs Führung" stammt von Tagesspiegel.