Neue Alzheimer-Ursache entdeckt: Warum bestimmte Immunzellen unser Gehirn angreifen
Gehirnalterung beginnt leise – und wird dann destruktiv
Das menschliche Gehirn ist ein Meisterwerk der Natur, hochkomplex, sensibel – und verletzlich. Mit zunehmendem Alter geraten zentrale Schutzmechanismen ins Wanken. Besonders betroffen: die Mikroglia, die Immunzellen unseres Gehirns. Eine aktuelle Studie der Universität Helsinki, veröffentlicht in Aging Cell (2024), liefert nun den Beweis für eine lange vermutete Theorie: Wenn Mikroglia altern und in eine seneszente Phase übergehen, greifen sie aktiv in unsere neuronalen Netzwerke ein – mit fatalen Folgen für das Gedächtnis.
Nils Behrens ist Chief Brand Officer bei Sunday Natural, Host des Podcasts "Healthwise" und Dozent an der Hochschule Fresenius. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.
Mikroglia: Schutzengel mit Schattenseite
Mikroglia gelten als „Polizei“ des Gehirns: Sie scannen kontinuierlich das neuronale Umfeld, beseitigen potenziell gefährliche Partikel, überwachen Synapsen und reagieren auf Entzündungsreize.
Doch diese Studie zeigt erstmals in vivo: Seneszente Mikroglia – also gealterte, dysfunktionale Zellen – verlieren ihre regulierende Funktion und werden selbst zum Problem. Statt das neuronale Gleichgewicht zu schützen, beginnen sie, gezielt exzitatorische Synapsen im Hippocampus (CA1-Region) abzubauen – also jene Verbindungen, die für Lernen und Erinnerung essenziell sind.
Neuroinflammation als neue Demenzursache?
Die Forscher:innen setzten bei Mäusen ein neuroinflammatorisches Modell ein, das chronische Entzündungen im Gehirn nachahmt. Es zeigte sich: Die dabei entstehenden seneszenten Mikroglia trugen wesentlich zur kognitiven Dysfunktion bei – nicht durch Neuronenverlust, sondern durch die Eliminierung synaptischer Verbindungen.
Dabei handelt es sich nicht um einen passiven Alterungsprozess, sondern um eine gezielte, durch Seneszenz veränderte Aktivität der Mikroglia. Diese richten sich gegen gesunde neuronale Strukturen – ein bislang unterschätzter Mechanismus bei altersbedingtem kognitivem Abbau und neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer.
Longevity beginnt im Immunsystem des Gehirns
Für die Longevity-Forschung sind diese Erkenntnisse hochrelevant. Denn sie erweitern das Verständnis von „Healthy Aging“ um einen weiteren zentralen Faktor: die Immunalterung des Gehirns. Chronische Entzündungen und zelluläre Seneszenz sind keine Randerscheinungen – sie sind möglicherweise Haupttreiber des kognitiven Verfalls.
Die gezielte Beeinflussung der Mikroglia-Funktion könnte sich künftig als eine der wirksamsten Strategien zur Erhaltung geistiger Fitness im Alter herausstellen.
Was können wir konkret tun?
Die gute Nachricht: Die Studie gibt nicht nur Einblick in das Problem, sondern auch in potenzielle Lösungsansätze. So konnten die Forscher:innen durch die gezielte Depletion seneszenter Mikroglia die kognitive Funktion der Mäuse wiederherstellen – ein faszinierender Beleg für die Plastizität des Gehirns.
Bis entsprechende Therapieansätze beim Menschen zur Verfügung stehen, helfen folgende präventive Strategien:
- Entzündungssenker in der Ernährung: Omega-3-Fettsäuren, Polyphenole (z. B. aus Beeren, grünem Tee), Kurkumin und Ballaststoffe unterstützen ein entzündungsfreies Milieu im ZNS.
- Bewegung: Sport reduziert systemische Entzündungen und moduliert die Aktivität von Mikroglia positiv.
- Senolytika in der Forschung: Naturstoffe wie Fisetin oder Quercetin werden als potenzielle Wirkstoffe zur Eliminierung seneszenter Zellen untersucht.
- Fasten und Kalorienrestriktion: Beides kann inflammatorische Prozesse dämpfen und Immunzellen verjüngen.
- Guter Schlaf: Während des Tiefschlafs aktiviert das Gehirn das glymphatische System, das entzündliche Abfallstoffe aus dem ZNS spült.
Ein neues Ziel in der Longevity-Medizin
Diese Erkenntnisse stellen die bisherige Alzheimer-Forschung infrage – die sich lange ausschließlich auf Amyloid und Tau konzentriert hat. Statt nur an Symptomen wie Plaques zu arbeiten, eröffnet sich nun ein völlig neuer therapeutischer Ansatz: das gezielte Management von Mikroglia-Aktivität und Immunalterung.
Kognitive Gesundheit wird damit zum integralen Bestandteil jeder Longevity-Strategie. Und Seneszenz – lange als rein zelluläres Problem gesehen – zeigt sich hier als hochaktive, pathologische Dynamik.
Fazit: Wer das Gedächtnis schützen will, muss Entzündungen stoppen
Seneszente Mikroglia zeigen, dass Altern nicht nur ein Verfall ist, sondern ein aktiver Prozess – mit potenziell rückführbaren Schäden. Die Erkenntnisse aus Helsinki unterstreichen: Kognitive Langlebigkeit erfordert ein gesundes Immunmilieu im Gehirn.