Erdoğan ist im Tauziehen zwischen Putin und Selenskyj der eigentliche Sieger

Am Donnerstag sollte in der Türkei über Frieden im Ukraine-Krieg gesprochen werden. Die Hoffnung: Der russische Präsident Wladimir Putin und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nehmen in Istanbul an direkten Gesprächen teil und verhandeln von Angesicht zu Angesicht. Neben den westlichen Regierungschefs hat sich vor allem der Gastgeber der Verhandlungen, die Türkei, darum bemüht.

Doch dieser Plan scheiterte. Putin ließ die Gespräche platzen und schickte eine Delegation aus der zweiten Reihe. Die Gespräche mit dem ukrainischen Pendant wurden nun auf Freitag vertagt. Der Start in Richtung Frieden ist also wieder einmal mindestens holprig. 

Dennoch gibt es bereits einen großen Profiteur: Recep Tayyip Erdoğan. Denn der türkische Präsident hat sein Ziel bereits erreicht.

Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg: Erdoğan als heimlicher Gewinner

Erdoğan ist es gelungen, sich inmitten des diplomatischen Nervenkriegs um eine Waffenruhe in der Ukraine als heimlicher Gewinner in Szene zu setzen – obwohl der große Showdown der Staatschefs in Istanbul vorerst ausgeblieben ist. Er präsentiert sich nicht nur als großer Vermittler, die Türkei war zudem Ausrichter des Nato-Außenministertreffens. 

Was als außenpolitisches Wagnis begann, ist nun zur geopolitischen Trumpfkarte geworden. Erdoğan ist zurück auf der Weltbühne – und das offenbar so stark wie nie zuvor.

Er macht sich dieser Tage als Vermittler im seit über drei Jahren andauernden Krieg unentbehrlich. So genieße die Türkei als einziges Land, das Vertrauen aller beteiligten Länder, behauptete Erdoğan bevor ein Termin für die Verhandlungen feststand. Deshalb sei man bereit, Verhandlungen auszurichten und die Gäste einzuladen.

Erdoğan hat einen Draht zu Putin – und zur Ukraine

Der Politikberater Sinan Ülgen sagte gegenüber der ARD, Erdoğan würden beide Konfliktparteien für einen "ehrlichen Makler" halten. Er habe einen sehr guten, auch persönlichen Draht zu Putin, außerdem floriert der Handel zwischen beiden Ländern weiterhin, schreibt die „Tagesschau“.

Gleichzeitig liefert die Türkei Drohnen an die Ukraine – Technologie, die zu Beginn des Krieges entscheidend war, um die russische Offensive zu stoppen. Erdoğan ist also mit beiden Seiten in gutem Kontakt – und keiner wagt es, ihm das übelzunehmen. Seine Position im Konflikt ist somit einzigartig.

Bereits im Jahr 2022 profilierte sich der türkische Präsident als pragmatischer Vermittler, als die Ukraine den zeitweise gestoppten Getreideexport über das Schwarze Meer mithilfe des von den Vereinten Nationen unterstützten Getreidedeals wieder aufnehmen konnte. 

Er brachte im August 2024 sogar einen der größten Gefangenenaustausche seit dem Kalten Krieg über die Bühne, vorwiegend zwischen den USA und Russland, an dem auch Deutschland beteiligt war. 

Und nicht zu vergessen: In Istanbul fanden von Mitte März bis Ende April 2022 die ersten Friedensverhandlungen zwischen Unterhändlern der Ukraine und Russlands statt. Dass ausgerechnet Erdoğan die Ukraine-Gespräche wieder nach Istanbul holte, ist also kein Zufall. 

Erdoğans Signal: Die Türkei ist bereit – für beide Seiten

In Istanbul fehlt nun aber einer: Putin. Doch Erdoğan zeigte sich trotz dieser diplomatischen Ohrfeige aus Russland unbeeindruckt. Er empfing Selenskyj persönlich, redete vier Stunden auf den Ukrainer ein. Das Treffen der beiden samt Arbeitsessen dauerte so lange, dass Erdoğan zu seinem Folgetermin zur Eröffnung der „Organization Academy Leadership School“ im Kongresszentrum der AK-Partei gerade noch pünktlich eintraf.

Massenproteste gegen Erdogan in der Türkei - Polizei geht radikal gegen Demonstranten vor
Massenproteste gegen Erdogan in der Türkei - Polizei geht radikal gegen Demonstranten vor Reuters

Sein Abschiedsgruß an Selenskyj ging auch an Putin: „Die Türkei wird für Dich und Putin Gastgeber sein, wenn ihr bereit seid“, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen. Damit signalisierte er, dass die Türkei auch weiter bereit ist, für Frieden zu sorgen.

Stolz konnte er verkünden, dass sich die "Horizonte" der Türkei erweitern, dass „die Zukunft der Türkei rosig aussieht“ und dass sein Land „in den Bereichen Diplomatie, Wirtschaft, Handel, Tourismus und anderen Bereichen in einer neuen Liga spielt“. Auch kritische Beobachter müssen ihm dabei recht geben.

Wer Frieden will, kommt wohl an Ankara nicht vorbei. Selbst Nato-Generalsekretär Mark Rutte lobte Erdoğans Rolle und forderte gar, dass Deutschland dem Wunsch der Türkei nach Eurofightern nachkommen solle. Mit dem begehrten Mehrzweckkampfflugzeug bekommt die Türkei wieder Oberwasser im Wettrüsten mit dem Erzfeind Griechenland. Dazu sollen die Türken, wenn es nach Rutte geht, immer mehr lukrative Rüstungsaufträge für die EU übernehmen – ein geopolitischer Prestigegewinn für die Türkei.

Friedensnobelpreis für den türkischen Präsidenten?

Parallel zu den geplanten Friedensgesprächen lief zudem das Nato-Außenministertreffen in Antalya – ebenfalls unter türkischem Vorsitz. Erdoğan nutzte auch diese Bühne, als gäbe es keine demokratische Erosion im eigenen Land, als hätte er nicht vor zwei Monaten seinen ärgsten politischen Rivalen Ekrem İmamoğlu inhaftieren lassen.

Der internationale Fokus liegt nun woanders, auf seiner Vermittlerrolle, nicht auf den Massenverhaftungen oppositioneller Bürgermeister oder Journalisten. Erdoğan gelingt es, außenpolitische Stärke in innenpolitisches Kapital umzuwandeln – in einer Zeit, in der er innenpolitisch schwer unter Druck steht. Er ist zurück auf der internationalen Bühne, er ist nun einflussreich und stark wie nie zuvor. 

Noch sind alle möglichen Szenarien zum Ausgang der Friedensgespräche denkbar. Er wird zwar in Istanbul fehlen, denn er reist zur sechsten Tagung des Gipfels der Europäischen Politischen Gemeinschaft nach Tirana in Albanien. In der Aura des Siegers sonnt sich der türkische Präsident aber jetzt schon.

Die Türkei als Ort der Entscheidung, Erdoğan als Vermittler der Stunde – und vielleicht als Friedensnobelpreisträger in spe. Ein Titel, der in Ankara bereits unter besonders treuen Unterstützern laut gedacht wird.