„Irgendwie überleben“: Ukraine klagt über schnell und schlecht ausgebildete Soldaten

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Ungenügende Ausbildung: Immer wieder bieten Armee-Einheiten Trainings für Freiwillige – hier die 3. Separate Angriffsbrigade. Nato-Offiziere kritisieren, dass neue Kräfte zu schnell an die Front geworfen werden. Da Soldaten und die Zeit knapp werden, steckt die Ukraine in einem Dilemma. © IMAGO/Ashley Chan/SOPA Images

Für einige Soldaten dauert der Krieg nur Stunden – sie sind einfach zu schlecht vorbereitet. Und sie geben im Gefecht offenbar auch schnell auf.

Pokrowsk – „Sie schießen ständig und fordern uns ständig heraus“, sagte Viktor über die russischen Attacken. „Wir müssen irgendwie überleben und die Stellung halten“, ergänzte der ukrainische Infanterist Ende Mai gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Vier Monate nach Kriegsbeginn hatte der 37-jährige Viktor seinen Einberufungsbefehl erhalten, schreibt die Agentur; damit ist er schon ein Veteran des Ukraine-Krieges.

Aktuell berichtet Associated Press (AP) von der geringen Ausbildungsqualität der neuen Rekruten. Angeblich hätten die frisch mobilisierten Soldaten sogar Hemmungen, auf Wladimir Putins Invasionstruppen zu schießen – wie beispielsweise in den Kämpfen um Pokrowsk.

Eine schockierende Nachricht hatte im vergangenen Jahr der Business Insider veröffentlicht: Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Frontsoldaten in der Ostukraine betrage vier Stunden – gemeint waren die „Fleischwolf“-Angriffe Russlands um die Stadt Bachmut in der Ostukraine. Auch weniger opferreiche Gefechte fordern allerdings einen Tribut von bis zu 70 gefallenen Ukrainern pro Tag. Verschiedene statistische Quellen beziffern die Stärke der ukrainischen Armee zu Beginn dieses Jahres auf rund eine Million Kräfte – inklusive parmillitärischer Einheiten.

Verluste der Verteidiger: bis zu 100.000 ukrainische Soldaten

Im Januar hatte die britische Times berichtet, dass der durchschnittliche Soldat der Ukraine 43 Jahre alt sei – „einige Freiwillige, die sich zu Beginn des Krieges mit Russland gemeldet hatten, sind geistig und körperlich erschöpft, und es mangelt an jüngeren Kämpfern, um sie zu ersetzen“, schreibt die Zeitung. Die Angaben über Verluste schwanken stark; von zwischen 30.000 und 100.000 gefallenen Kämpfern sprechen die Quellen. Zu viele jedenfalls, um ohne frische Kräfte weiterhin gegenhalten zu können.

„Das Hauptproblem ist der Überlebensinstinkt der Neuankömmlinge. Früher konnten die Leute bis zum letzten Moment durchhalten und ihre Stellungen halten. Jetzt ziehen sie sich sogar bei leichtem Beschuss ihrer Feuerstellungen zurück.“

Im April hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sein neues Mobilisierungsgesetz in Kraft gesetzt, um eine halbe Million Mann kurzfristig fronttauglich zu machen. Wehrpflichtige zwischen 18 und 60 Jahren sollten sich registrieren lassen – alle Männer von 18 Jahren an müssen einen Grundwehrdienst absolvieren; von 25 Jahren an ist der Einsatz an der Front möglich. Vor dem Befehl zum Kriegseinsatz solle jedoch verpflichtend eine mehrmonatige Ausbildung durchlaufen werden, wie der Deutschlandfunk zusammenfasste.

Laut AP führt das neue Rekrutierungsgesetz zum Nachschub von rund 10.000 Kämpfern pro Monat. Deren Schulung soll jedoch kaum auf die Realität der Front vorbereiten, wie es im Bericht heißt:

„Manche weigern sich, auf Gegner zu schießen, andere haben Schwierigkeiten mit grundlegenden Kampftechniken oder lassen sogar ihre Posten im Stich: Das berichten Befehlshaber und Kameraden über neue ukrainische Soldaten“, meldet AP und zitiert einen erfahrenen Kämpfer der 110. Brigade, die in Donezk kämpft: „Das Hauptproblem ist der Überlebensinstinkt der Neuankömmlinge. Früher konnten die Leute bis zum letzten Moment durchhalten und ihre Stellungen halten. Jetzt ziehen sie sich sogar bei leichtem Beschuss ihrer Feuerstellungen zurück.“

Russlands permanente Offensiven: Erfahrene ukrainische Soldaten psychisch am Boden

Die Grundausbildung besteht in der Festigung körperlicher Fitness, dem Umgang mit Waffen, Eigen- und Kameradenhilfe im Falle von Verwundungen sowie dem eigenen sicheren Bewegen im Gelände beziehungsweise dem Bewegen im taktischen Verband. All das scheint den Neuankömmlingen zu fehlen, monieren Truppenführer in den Einheiten. Beispielsweise fehle die Disziplin, taktischen Anweisungen zu folgen, ihren Unteroffizieren zu vertrauen, Stellungen diszipliniert zu halten oder grundsätzlich sogar der sichere Umgang mit der Waffe; beispielsweise dem Zerlegen und Zusammenbauen bei Dunkelheit.

Der Infanterist Viktor sei kurz nach seiner Einberufung in ein an Russland grenzendes Gebiet im Norden der Ukraine geschickt worden. Dort sollte er Schützengräben und Befestigungen ausheben, wie Reuters berichtete. Im Februar dieses Jahres will Viktor zusammengebrochen sein, schreibt Reuters-Autorin Mari Saito: Er war mürbe geworden durch Schlafmangel und die ständige Bedrohung durch den Tod. „Eines Morgens wachte er erstarrt vor Angst auf und war körperlich nicht in der Lage, seinen Posten aufzusuchen. Viktor war vor Angst wie gelähmt. Was, wenn er seine Arbeit nicht richtig machte, was, wenn etwas mit seiner Waffe nicht stimmte, was, wenn er seine Kameraden im Stich ließ, die er seine ,Brüder‘ nannte und als seine zweite Familie betrachtete?“

Ausbildung ungenügend: Nato-Offizier kritisiert Pläne der Ukraine

Rund 10.000 ukrainische Soldaten wurden im vergangenen Jahr von deutschen und multinationalen Verbänden auf deutschem Boden ausgebildet, berichtet die Bundeswehr. Von der Minenabwehr über den Häuserkampf und das Panzer-Duell, bis zur Fronttauglichkeit einer Patriot-Crew. Die ukrainischen Männer müssen ihre Grundausbildung in sechs Wochen gemeistert haben, anstatt in zwölf, wie in der Bundeswehr üblich. Dennoch kommt Kritik aus der Bundeswehr-Führung, wie Reuters Ende Juni berichtete: Die Ukraine handhabe die Ausbildung falsch.

Die neuen Rekruten mit einer Grundausbildung in Erster Hilfe und dem Einmaleins des Sturmgewehrs ins Feld zu schicken, sei wenig hilfreich, urteilt Andreas Marlow gegenüber Reuters; „weil sie ohnehin noch nicht völlig einsatzbereit sind“. Der Generalleutnant und Leiter des German Elements MN Corps/Basic Military Organization in Strausberg ist überzeugt, Deutschland könnte die Grundausbildung für ukrainische Armeerekruten in weit umfangreicherem Maße durchführen.

Marlows Special Training Command (STC) ist Teil einer Militärmission der Europäischen Union, die 2022 gegründet wurde, um bis Mitte November 2024 etwa 60.000 ukrainische Soldaten in verschiedenen Fähigkeiten auszubilden und so Kiew bei der Bekämpfung der russischen Invasion zu helfen, schreibt Reuters. Seinen Erfahrungen nach will die Ukraine die kollektive Ausbildung wieder ins eigene Land zurückholen, weil die Vermittlung operativer Doktrinen durch Ukrainer einfacher sei und um die Entsendung frischer Truppen zu beschleunigen, wie er der Agentur gegenüber äußerte.

Kriegstüchtig gegen Putin: 1.500 Schuss Munition und mehrere Wochen Drill

Er hielte das für eine Minderung der Qualität und würde verschiedene Nato-Länder unter Druck setzen, eventuell Ausbilder in die Ukraine entsenden zu müssen. Frankreich hatte sich bereits dazu bereit erklärt, Deutschland hatte sich dem kategorisch verweigert. Allerdings hatten russische Kommandeure Anfang Juni gegenüber der Washington Post ebenfalls ihre Bedenken geäußert: „Woher die neuen Soldaten auch kämen, ukrainische Feldkommandeure sagten, dass sie wegen der mangelhaften Ausbildung oft Wochen damit verbringen müssten, ihnen grundlegende Fertigkeiten wie etwa das Schießen beizubringen“, wie die Post schrieb.

Ein 28-jähriger stellvertretender Bataillonskommandeur der 93. Mechanisierten Brigade mit dem Kampfnamen „Schmidt“ klagte gegenüber der Post, dass den neuen Frontsoldaten oft sogar das Wesentliche fehle – allerdings seien das noch gar keine frisch ausgebildeten neuen Rekruten, sondern Soldaten aus der Reserve, die mangels erfahrener Kräfte die Lücken in der Verteidigung auffüllen müssten. „Schmidt“ äußerte, dass er allen neu Hinzugekommenen zunächst eine Schachtel Munition in die Hand drücke, damit die den Umgang mit dem Sturmgewehr übten.

Nach diesen rund 1.500 abgefeuerten Schuss und dem drillmäßigen unendlichen Wiederholen des Zusammenbaus wie dem Auseinandernehmen des Gewehres könnte er sie heranführen an komplexere Aufgaben, die wiederum mehrere Wochen Übung verschlingen würden. „Wir verschwenden hier einfach eine Menge Zeit mit der Grundausbildung“, sagte „Schmidt“ gegenüber der Post und fügte hinzu: „Wenn es – Gott bewahre – in der Nähe von Tschassiw Jar zu einem Durchbruch kommt und wir neue Infanterie bekommen, die die grundlegenden Dinge nicht beherrscht, werden sie dorthin geschickt, um einfach zu sterben.“

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