„Man muss radikal sein“ – Das steckt hinterm Hype um Linken-Star Heidi Reichinnek
Der Tag, an dem Friedrich Merz zum Kanzler gewählt wurde, dürfte als einer der denkwürdigsten Momente der deutschen Politik in Erinnerung bleiben – auch ihretwegen: Heidi Reichinnek. Noch wenige Jahre zuvor wäre undenkbar gewesen, was sich am Dienstag im Bundestag abspielte: Die Fraktionschefin der Linken, sonst ein rotes Tuch für alle Konservativen im Bundestag, stand plötzlich Seite an Seite mit Alexander Dobrindt und Jens Spahn.
Reichinnek machte Merz-Wahl möglich
Mit den Unions-Männern besprach sie, wie der zweite Wahlgang für Merz noch am selben Tag möglich gemacht werden könnte. Die Frau, die auf ihrem linken Arm ein Tattoo der Sozialismus-Ikone Rosa-Luxemburg tätowiert hat, verhalf so einem brennenden Vertreter marktwirtschaftlicher Politik ins Kanzleramt.
Dass Reichinnek unter der neuen Regierung aber nicht plötzlich alle ihre Grundsätze über Bord werfen wird, machte sie erst vor kurzem unmissverständlich klar: Kaum zwei Tage vor dem Merz-Wahltag sagte sie in einem Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung", der Sozialstaat werde „immer weiter ausgehöhlt, der Reichtum von wenigen explodiert“.
Auch dadurch sei die Demokratie „ernsthaft bedroht“. „Wer das verhindern will, der darf den Kapitalismus nicht stützen, er muss ihn stürzen. Er muss sich dagegenstemmen und die Systemfrage stellen, ganz klar.“
Hype um Heidi: Mit radikalen Forderungen zum Star der Linken
Es sind Sätze, die in ihrer Deutlichkeit an die Tradition radikaler Systemkritiker erinnern – und doch versucht Reichinnek sie bewusst modern und anschlussfähig klingen zu lassen. „Ich habe kein Problem damit, das Wort Sozialismus zu verwenden“, betont sie in der „NOZ“.
Das Ziel der Linken sei jedoch ein sozialistisches Gesellschaftsmodell, das sich klar von autoritären Konzepten wie der DDR unterscheide: „In der DDR gab es keinen demokratischen Sozialismus.“ Eine historische Kommission der Linken habe die Fehler der SED umfassend aufgearbeitet.
Diese radikale Haltung bringt ihr gerade unter jungen Wählern viel Zustimmung – ja sogar Bewunderung ein. Heidi Reichinnek gilt längst als Star der linken Szene, auf TikTok hat sie über eine halbe Million Follower und über 16 Millionen Likes – und im INSA-Politiker-Ranking ist sie eine der beliebtesten Politikerinnen Deutschlands.
Dabei stand ihre Partei vor wenigen Jahren am Abgrund. Noch Anfang 2025 dümpelte die Linke in den Umfragen bei rund drei Prozent, der Wiedereinzug in den Bundestag schien kaum mehr möglich. Doch mit Reichinneks Aufstieg zur Spitzenkandidatin kletterte die Partei bei der Bundestagswahl plötzlich auf über acht Prozent.
Politisierung in Kairo, Aufstieg in Berlin
Besonders bei jungen Wählern war der Erfolg deutlich: 26 Prozent der Erstwähler entschieden sich für die Linke. Zum Vergleich: Unter Sahra Wagenknecht waren es 2021 nur acht Prozent gewesen.
Reichinneks politische Karriere begann lange vor dem Höhenflug ihrer Partei – und weit entfernt von der deutschen Innenpolitik. Nach einem Studium der Nahoststudien und Politikwissenschaft in Halle und Marburg erlebte sie den Arabischen Frühling in Kairo hautnah – der Moment ihrer Politisierung, wie sie später erzählt.
Neben Rosa-Luxemburg ziert seitdem eine Nofretete mit Gasmaske ihren linken Arm. In den folgenden Jahren arbeitete Reichinnek als Forscherin zu Islamismus und Salafismus, bevor sie in die soziale Arbeit wechselte. Ab 2015 betreute sie unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
Dieses Engagement führte sie schließlich in die Linke. Bereits ein Jahr nach dem Parteieintritt 2015 zog sie in den Osnabrücker Stadtrat ein. 2017 gründete sie die Linksjugend Niedersachsen mit, 2019 wurde sie Landesvorsitzende. 2021 folgte der Einzug in den Bundestag, wo sie frauenpolitische Sprecherin wurde. Nach parteiinternen Machtkämpfen rückte sie 2025 endgültig ins Zentrum der Linken: Reichinnek wurde Spitzenkandidatin und schließlich Fraktionsvorsitzende.
„In den heutigen Zeiten muss man radikal sein“
Trotz der wachsenden politischen Verantwortung hat sie ihren Lebensmittelpunkt nicht verlagert. Seit zehn Jahren wohnt sie laut der „NOZ“ in einer Mietwohnung in Osnabrück. Weit weg vom „Polit-Zirkus“ in Berlin, wie sie sagt. „Ich bin in Osnabrück sehr glücklich“, betont sie. Hier lebe ebenfalls ihr Partner, auch wenn sie aufgrund ihrer politischen Verpflichtungen zuletzt wenig Zeit füreinander fanden.
Während Reichinnek privat also auf Beständigkeit setzt, bleibt ihr politisches Profil kompromisslos: „In den heutigen Zeiten muss man radikal sein“, betont sie in dem Bericht. Dass sie mit solchen Aussagen laut „Bild“ in der Debatte zum zweiten Merz-Wahlgang für die SPD als Teil der demokratischen Mitte bezeichnet wurde, zeigt, wie sehr sich die politischen Koordinaten inzwischen verschoben haben.
Während die Union sich weigert, mit der AfD zu reden, sucht sie bei der Linksfraktion die Gespräche – zumindest, wenn es um das Kanzleramt geht. Ob Reichinnek diese Balance zwischen radikaler Systemkritik und politischer Anschlussfähigkeit dauerhaft halten kann, bleibt abzuwarten.