Kolumne von Serap Güler - Deutschland ist in Watte gepackt – Trump lässt jetzt nur eine Schlussfolgerung zu
Wir können und dürfen nicht mehr herumreden: Deutschland steht vor der größten Herausforderung seit Bestehen der Bundesrepublik. Es herrscht in der Ukraine ein brutaler, völkerrechtswidriger Angriffskrieg in Europa, der seit drei Jahren andauert. Auf unseren wichtigsten sicherheitspolitischen Verbündeten und Partner ist nicht nur kein Verlass mehr, es stellt sich sogar die Frage, ob Europa und Donald Trumps Vereinigte Staaten mittlerweile auf unterschiedlichen Seiten des Konflikts stehen.
Beschämend, wie Trump mit Partnern umgeht
Es ist und bleibt beschämend, zu beobachten, wie die Nation, die für sich in Anspruch nimmt, die freie Welt anzuführen, mit ihren Partnern umgeht, die sich gerade in einem Verteidigungskrieg, in einem Überlebenskampf, befinden. Mit Partnern, die nicht nur ihre eigene Existenz und Freiheit verteidigen, sondern auch die zentrale Idee, der sich die USA seit ihrer Unabhängigkeitserklärung 1776 verschrieben haben: das unermüdliche Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung.
Inmitten des erbitterten Kampfes der Ukraine steht ihr unerschütterlicher Glaube an die Selbstbestimmung und den Mut, die Freiheit zu verteidigen. Statt einer weiteren und stärkeren Unterstützung der USA für diesen Kampf haben wir am 28. Februar 2025 die Gewissheit erhalten: Europas und Deutschlands Sicherheit dürfen nicht von den Launen eines US-Präsidenten abhängen. Mit seinem Verhalten im Oval Office, diesem ehrwürdigen Ort, an dem so viele für die freie Welt richtungsweisende Entscheidungen getroffen wurden, hat Trump final bewiesen: Die freie Welt ist führungslos.
Wir müssen Macht aufbauen, um dem Recht zur Stärke zu verhelfen
Die Aufgabe, diese Lücke auszufüllen, für die Aufrechterhaltung der regelbasierten Weltordnung und für die Stärke des Rechts, fällt nun Europa zu. Deutschland muss ab heute seiner Verantwortung gerecht werden, Europa auf diesem Weg zu führen, zusammenzuhalten, zu verteidigen, wie es unsere Nachbarn und Verbündeten zurecht von uns erwarten.
Bei allem diplomatischen Einsatz für eine regelbasierte Weltordnung müssen wir dennoch realistisch anerkennen: Wenn einige Mächte das Recht des Stärkeren über die Stärke des Rechts stellen, müssen wir selbst Macht aufbauen, um dem Recht wieder zur Stärke zu verhelfen.
Sondervermögen und Verteidigungshaushalt müssen wachsen
Was bedeutet das konkret für Deutschland und Europa? Was muss getan werden, um zu beweisen, dass wir diesmal nicht nur aufwachen, sondern endlich aufstehen?
Unumstritten dürfte sein, dass die Bundeswehr zur Ertüchtigung, zur Ausrüstung, aber auch zur Aufrüstung, ein neues Sondervermögen benötigt, um schnell, planungssicher und überjährig neues Material beschaffen zu können. Dies anhand der gerade zu finalisierenden Military Capability Requirements der Nato, aber auch darüber hinaus, um einen Teil des zu erwartenden Ausfalls der USA zu kompensieren.
Serap Güler, Jahrgang 1980, ist seit 2021 für die CDU Mitglied des Deutschen Bundestags und sitzt im Bundesvorstand ihrer Partei. Zuvor war sie Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen sowie Landtagsabgeordnete. Güler ist die Tochter türkischer Gastarbeiter. Sie ist muslimisch, verheiratet und seit 2010 deutsche Staatsbürgerin.
Der Verteidigungshaushalt muss parallel zu einem neuen Sondervermögen inkrementell aufwachsen, um laufende Kosten, Betrieb und den personellen Aufwuchs zu finanzieren. Auch die Mittel des Bundes für Zivilschutz und -verteidigung müssen aufgestockt werden.
Rüstungsindustrie braucht Planungssicherheit
Ein Gesellschaftsjahr mit Fokus auf Wehrdienst und Zivilverteidigung muss zeitnah eingeführt werden. Eine Grundgesetzänderung für die Aufnahme von Frauen in die Wehrpflicht ist anzustreben.
Deutschland und Europa müssen ihre Rüstungsindustrie dazu ertüchtigen und ihr die Planungssicherheit geben, um die Produktionskapazitäten um ein Vielfaches zu erhöhen. Die Produktion von Rüstungsgütern muss in Europa priorisiert werden. Bei der Neubeschaffung von Waffensystemen muss der Fokus auf den Lücken liegen, die die USA hinterlassen werden: u.a. Enabler, Aufklärung, strategischer Lufttransport, Feuerkraft durch Quantität.
Die Bürger aus der Watte packen
Der europäische Teil der Nato muss sich unter der Führung Deutschlands, Frankreichs, Polens und des Vereinigten Königreichs einen Plan zur Verteidigung Europas geben, mit klaren Fähigkeitsforderungen. Dabei werden alle europäischen Nato-Partner mitgenommen, die einen solchen Plan ambitioniert und verlässlich mit umsetzen werden. Über die nukleare Abschreckung muss in Europa eine ernsthafte, ergebnisoffene Debatte geführt werden.
Kurzum: Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger aus der Watte packen. Wir müssen aufstehen.