Bereit zu Abtretungen - Ukraines Misserfolge an der Front lösen enormen Stimmungswandel im Land aus

Ex-Nato-Chef Jens Stoltenberg sprach zuletzt aus, was hinter vorgehaltener Hand wohl schon länger diskutiert wurde: Eine Option für eine Vereinbarung zwischen der Ukraine und dem Aggressor Russland könnte darin bestehen, die besetzten Gebiete vorerst an Russland zu geben.

Später, so zumindest die Theorie, soll die Ukraine ihr Land zurückbekommen. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj äußerte jüngst seine Bereitschaft, das völkerrechtswidrig okkupierte Land unter russische Kontrolle zu stellen, bis es mit diplomatischen Mitteln zurückerlangt wird. 

Im besten Fall dann, wenn der russische Präsident Wladimir Putin nicht mehr an der Macht ist.

Es ist eine deutliche Änderung der bisherigen Linie, sich auf keine Kompromisse mit Russland einzulassen. Sie geschah unter dem Eindruck des bald dreijährigen Angriffskrieges, der für Kiew zunehmend schlecht läuft. 

Auch in der Bevölkerung hat sich die Meinung zu Verhandlungen verändert. Das zeigt die aktuellste Umfrage US-amerikanischer Meinungsforscher.

  • 52 Prozent der Ukrainer befürworten demnach einen möglichst baldigen Beginn von Verhandlungen mit Russland zur Beendigung des Krieges.
  • Das Besondere: Sie sind der Meinung, dass „die Ukraine für gewisse territoriale Zugeständnisse als Teil eines Friedensabkommens offen sein sollte“.
  • Dieser Wert hat zum ersten Mal die Marke von 50 Prozent überschritten.
  • Allerdings lehnen 38 Prozent derjenigen, die Verhandlungen grundsätzlich unterstützen, jegliche territorialen Zugeständnisse zugunsten Russlands ab.

Zugleich sind ebenfalls 38 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Ukraine bis zum Sieg weiterkämpfen sollte. Das sind die Ergebnisse der Umfrage des US-Instituts Gallup, die im Zeitraum von August bis Oktober 2024 durchgeführt wurde. Die Umfrage wurde am 19. November veröffentlicht.

Meinungswandel mit Misserfolgen der Ukraine an der Front zu erklären

Nach den Gallup-Angaben ist die Zahl der Befürworter von Verhandlungen in den vergangenen zwei Jahren schrittweise gestiegen. So sprachen sich im Jahr 2022 73 Prozent der Ukrainer für die Fortsetzung des bewaffneten Kampfs gegen Russland bis zum Sieg der Ukraine aus. 22 Prozent waren für Verhandlungen. 2023 lagen die Gegner und Befürworter von Verhandlungen bei 63 beziehungsweise 27 Prozent.

Jewhen Holowacha, Direktor des Instituts für Soziologie an der Wissenschaftsakademie der Ukraine, erklärt diesen Meinungswandel mit den Misserfolgen der Ukraine an der Front und dem Scheitern der Mobilisierungskampagne.

"Gesellschaft als Ganzes verurteilt die Kriegsverweigerer nicht"

„Obwohl die ukrainischen Streitkräfte immer noch die größte Unterstützung der Bevölkerung unter allen staatlichen Institutionen haben – 90 Prozent der Ukrainer vertrauen ihnen – entziehen sich immer mehr wehrpflichtige Männer der Einberufung an die Front, und die Gesellschaft als Ganzes verurteilt die Kriegsverweigerer nicht“, sagte Holowacha dem Tagesspiegel.

Ihm zufolge war die Mehrheit der Ukrainer bis vor kurzem gegen jegliche Verhandlungen, weil sie nicht selbst an die Front gehen musste. „Jetzt aber, nachdem klar geworden ist, dass die Streitkräfte erheblich aufgestockt werden müssen, um den Kampf fortzusetzen, wächst die Bereitschaft zu Kompromissen im Austausch für eine Beendigung des Krieges.“

Ukraine soll Alter für Kriegsdienst auf 18 Jahre senken

Etwa ein Viertel der Ukrainer, so der Soziologe, gehört jedoch zum Kern derjenigen, die unter keinen Bedingungen Friedensverhandlungen um den Preis territorialer Zugeständnisse unterstützen würden.

Unumstritten unter westlichen Experten wie unter ukrainischen Militärs ist inzwischen, dass die Ukraine bei der Verteidigung gegen Russland nicht nur ein Material-, sondern auch ein Personalproblem hat. Der Armee fehlt es an Rekruten und auch an qualifizierten Ausbildern. 

Die USA üben dabei im Hintergrund offenbar Druck auf die ukrainische Führung aus. Sie soll das Alter für den Kriegsdienst auf 18 Jahre senken. Zumindest bisher lehnt Kiew das ab.

Von Tobias Mayer, Valeriia Semeniuk