Ex-Lehrer sagt: „Eltern haben die Pflicht vorzulesen“
Hans Anetsberger (84), ist ehemaliger Grundschullehrer. Er führt Kinder in die Welt der Buchstaben – seit Jahrzehnten und heute immer noch. Wir sprachen mit ihm übers Lesen.
Der Ebersberger Hans Anetsberger (84) arbeitete 40 Jahre als Lehrer, unter anderem in Dorfen, Aßling und Markt Schwaben, zunächst in den Jahrgangsstufen drei bis sieben. Irgendwann verspürte er Lust, den Prozess des Leselernens von Beginn an in den Fokus zu nehmen. So wechselte er in die erste Klasse. Bis zu seiner Pensionierung empfand Anetsberger den Lehrerberuf als außerordentlich beglückend. Er beschäftigt sich bis heute mit verschiedenen Methoden des Leselernens und arbeitet seit Jahren ehrenamtlich in der Mittagsbetreuung Ebersberg, speziell mit Leseanfängern, die einen höheren Förderbedarf haben.
Ferienzeit, nun haben Kinder Zeit zum Lesen.
Die Kinder haben Zeit zum Lesen? Eine schwierige Geschichte. Nur leseinteressierte Kinder werden zum Buch greifen.
Sie waren 40 Jahre Lehrer. Was hat sich in dieser Zeit in Hinblick auf Lesenlernen verändert?
Als ich selbst 1946 in die Schule kam, lernten wir einzelne Buchstaben: das H als Turnstange, das T als Spazierstock, das O als Reifen. Danach hat man versucht, die Buchstaben aneinanderzureihen. Eines Tages bekam ich ein neues Lesebuch. Es war ein Projekt mit einem neuen Leselernprozess: Kinder lernten ganze Wörter auswendig und aus diesen Wörtern wurden Buchstaben analysiert. Als ich in das Studium kam, war diese Methode die gängige. Aber man sah: Das Material ist zu umfangreich und muss gekürzt werden. Heute arbeitet man in der Schule überwiegend mit Silbenbögen und farbig hervorgehobenen Silben. Aus den Silben analysieren die Kinder dann die Buchstaben.
Wie bewerten Sie den Leseprozess?
Ich sage, dass es sehr viele Kinder gibt, die weitaus länger bräuchten, als man ihnen gibt. Es geht ums Hören, Sprechen und Verstehen. Alles grundlegende Dinge. Manche Kinder können mit der Silbenmethode sehr schnell lesen lernen. Kinder, die sich Buchstaben nicht merken können, haben aber ihre Schwierigkeiten. Die brauchen mehr Übungszeit. Es ist extrem schwierig für das Kind, aus den Buchstaben ein Wort und aus dem Wort Bilder zu machen, sodass im Kopf ein Film entsteht. Ein Beispiel, wie man das erleichtert: Ich decke den Text ab und lasse nur ein oder zwei Zeilen sichtbar. „Lies‘ diese Zeile laut und überlege, was hier los ist. Welches Wort verstehst du nicht?“ Es ist der Punkt, an dem Kinder begreifen: Ich lese nicht, damit die Zeit vergeht, sondern weil ich etwas Neues erfahre. Es gibt übrigens Kinder, die lesen technisch perfekt und wissen nicht, was sie gelesen haben.
Ist es schwieriger geworden, Kindern das Lesen beizubringen?
Nein, es ist nicht schwieriger geworden. Nur haben sich die Umstände und die Intensität in der Schule geändert, diesen Prozess zum Ende zu führen. Ich muss für das Kind Zeit haben. Und diese Zeit wird Lehrern genommen.
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Aus ihren Schilderungen spricht Leidenschaft.
Ich habe schon als zehnjähriges Kind entschieden, Lehrer zu werden. Und dieser Beruf hat mich glücklich gemacht. Situationen, die mich besonders berührt haben: wenn zum Beispiel ein Kind kam und sagte „Herr Anetsberger, ich kann jetzt lesen!“ Dann war ich dankbar, das Kind hat einen Sprung gemacht und ich durfte diesen Prozess begleiten. Wenn sie wissen wollen, warum etwas im Lehrerberuf funktioniert: Sie müssen dienend auf das Kind eingehen.
Zurück zum Lesen: Wo ist der Punkt, an dem das Kind die Begeisterung fürs Lesen verliert?
Das passiert in der ersten und zweiten Klasse. Noch einmal: hier fehlt die Zeit, besonders bei Kindern, die die einzelnen Laute der deutschen Sprache noch gar nicht bilden können. Sie müssen ein Gefühl bekommen. „Wie hört sich ein Laut an? Was macht die Zunge?“ Es geht als Erstes um den Stimmapparat. Das ist ein sehr komplizierter Vorgang, auch bei deutschsprachigen Kindern, bei denen zuhause Gespräche in eineinhalb-Wort-Sätzen ablaufen.
Jeder vierte Viertklässler in Deutschland kann nicht richtig lesen, so das Ergebnis der neuen IGLU-Studie. Wird das besser, wenn die Kinder älter werden?
Man muss die Kinder mit den richtigen Geschichten füttern. Der Leselernprozess sollte am Ende der zweiten Klasse abgeschlossen sein. Bis dahin muss man nicht nervös werden. Es gibt allerdings Spätentwickler, oft sind es Buben, die brauchen ihre Zeit.
Lesen senkt den Stresspegel, verbessert den Wortschatz und fördert die Gehirntätigkeit. Dem stimmen Sie vermutlich zu?
Absolut. Übrigens: Lesenlernen passiert über Nacht. Kein Blödsinn. In der Nacht wird das Gelernte verarbeitet und abgelegt. Irgendwann hat das Gehirn geschafft, dem Kind beizubringen, wie die Technik beim Lesen geht.
Mehr als jedes dritte Kind bekommt zu Hause selten oder gar nicht vorgelesen. Die Gründe: keine Zeit, Vorlesen ist altmodisch, das Kind ist zu unruhig.
Altmodisch ist Vorlesen überhaupt nicht. Wer das sagt, hat keine Ahnung davon, was die geistige Anregung beim Lesen für das Kind bedeutet. Das Kind ist unruhig? Dann mache ich etwas falsch. Entweder ich lese zu schnell, die Geschichte ist langweilig oder ich überfordert das Kind.
Und was ist mit der fehlenden Zeit, die Eltern womöglich davon abhält?
Das gilt nicht. Eltern haben Pflichten. Dazu gehört auch die Pflicht vorzulesen. Und das Kind hat das Recht darauf, in der Bildung bis an die Grenze seiner Möglichkeiten geführt zu werden. Davon leben die Kinder eines Tages.
Wie können Eltern und Lehrer*innen den Prozess unterstützen?
Man muss dem Kind Sicherheit geben: „Du kannst was, du bist wer, das muss endlich mal gesagt werden.“ Man muss zeigen, was es kann, und nicht, was es nicht kann. Wenn ein Kind Probleme beim Lesen hat, wird es beim Vorlesen in den Boden gedrückt. Ein probates Mittel ist das Chorlesen. Ich passe dann das gemeinsame Lesen dem Tempo des Kindes an. Vielleicht macht man aus dem Text eine Melodie. Man liest abwechselnd: eine ganze Seite oder auch nur ein Wort. Einmal laut, einmal leise. Man fragt nach, wofür sich das Kind interessiert.
Bei Kindern sind Comics gefragt, mit wenig Text in Sprechblasen und vielen Bildern. Gut oder schlecht?
Als ich Kind war, habe ich gerne Donald Duck angesehen. Die Sprechblasen habe ich teilweise gar nicht gelesen. „Grrrrmpf“ war für mich akustischer Blödsinn. Aber wenn Kinder das mögen und auch lesen, dann haben wir schon eine ganze Menge gewonnen.
Welche Tipps geben sie den Eltern für die Ferien?
… erst einmal 14 Tage bis drei Wochen gar nichts zu machen. Die Kinder brauchen Erholung. In den letzten 14 Tagen kann man sich vornehmen: jeden Tag 10 Minuten lesen, jeden zweiten Tag gemeinsam. Es gibt geeignete Bücher für Leseanfänger, mit größerer Schrift und Bebilderung. Ein ganz tolles Spiel ist übrigens: Ich lese, das Buch liegt dabei auf dem Kopf.
Lesen in digitalen Medien, wie stehen Sie dazu?
Computer? Warum nicht? Es geht darum, ob der Inhalt die Welt des Kindes trifft. Aber: Es gibt Kinder, die können mit den Augen die Zeile nicht fassen. Darum bewegen sie beim Lesen den Finger mit. Und das geht nur beim Buch.