Analysten schlagen Alarm, Russlands Wirtschaftskraft scheint unangreifbar. Ihre Befürchtung: Nach einem Frieden würde alles noch schlimmer werden.
Moskau – „Soweit uns bekannt ist, wurde die Rubesch ausschließlich für den Einsatz von Atomwaffen entwickelt. Ihr 1.000 bis 1.200 Kilogramm schwerer Sprengkopf sollte mit mehreren (drei bis sechs) einzeln gelenkten Sprengköpfen mit einer Kapazität von etwa 100 Kilotonnen ausgestattet sein (am häufigsten werden drei bis vier Sprengköpfe mit jeweils 300 Kilotonnen angegeben)“, schrieb Andrei Charuk. Der Autor des Magazins Militarnyi überbrachte damit die Nachricht, dass die als Rubesch beziehungsweise Oreschnik im Ukraine-Krieg aufgetauchte neue Rakete Wladimir Putins eine ernste Bedrohung bedeuten wird – für die gesamte Welt. Jetzt legt das Military Watch-Magazin nach; mit der vermeintlich nächsten Hiobsbotschaft.
Schätzungen zufolge könne Russland jedes Jahr 300 neue Oreshnik-Langstreckenraketen produzieren, schreibt das Magazin und beruft sich auf Befürchtungen der Hauptdirektion für Aufklärung des ukrainischen Verteidigungsministeriums. Dieser nachrichtendienstlichen Einschätzung zufolge könne Russland monatlich bis zu 25 Oreschnik-Raketen herstellen, was einer Produktion von 300 Raketen pro Jahr entspräche.
Drohung an die Nato: Putin plant, Oreschnik-Raketen auch in Weissrussland zu stationieren
Ohne nähere Gründe für diese Vermutung stützt sich die Ukraine wohl vornehmlich auf eine Ankündigung Wladimir Putins vom 6. Dezember, dass Moskau plane, Oreschnik-Raketen auch im verbündeten Weissrussland zu stationieren. Pläne für Auslandseinsätze kurz nach der Vorstellung der neuen Raketenklasse seien ein möglicher signifikanter Indikator für eine Produktion im großen Stil, wie Military Watch orakelt.
„Ein Waffenstillstand in der Ukraine würde es Russland ermöglichen, seine militärischen Vorräte in beispiellosem Ausmaß aufzufüllen.“
Der Ende November mit der Interkontinentalrakete Oreschnik durchgeführte Angriff auf die Ukraine markiert also eine neue Dimension im Ukraine-Krieg und dem beginnenden neuen Rüstungswettlauf. Die Ukrainska Prawda mutmaßt, die Rakete sei abgefeuert worden vom Testgelände Kapustin Jar im russischen Bezirk Astrachan. Bis zum Ziel Dnipro hat die Rakete also 1.000 Kilometer zurückgelegt. Sie könnte vom dortigen Standort aus mindestens das rund 3.800 Kilometer entfernte Paris erreichen oder fast sogar das rund 5.500 Kilometer entfernte Lissabon.
Für die Belarussen nach eigener Einschätzung eine zwingend notwendige Reaktion auf die Aggression des Westens, wie Alexei Avdonin sagt: „Unsere Länder konzentrieren sich auf die Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung in unserer Region und auf die Gewährleistung der Sicherheit unserer Bevölkerung. Denn wir wissen sehr gut, dass die Vereinigten Staaten von Amerika bereits Mittelstreckenraketen auf dem Territorium Europas stationiert haben, die unser gesamtes belarussisches Territorium bedrohen können“, wie der Analyst des Belarussischen Instituts für Strategische Studien über den staatlichen Sender Belteleradyjo zu vernehmen ist.
Meine news
„Natürlich“, wie er anschließt, seien die Russische Föderation und die Republik Belarus dadurch gezwungen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die das Kräftegleichgewicht in Europa eindeutig aufrecht erhielten und die Amerikaner daran hinderten, in der Region zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer „einen groß angelegten Krieg zu entfesseln“, so Avdonin. Tatsächlich soll Russland die Produktion von Feststoff-Motoren für Raketen ausbauen, berichtet Fabian Hinz.
Atomdrohung besteht: Offenbar sieht sich Russland trotz westlicher Sanktionen handlungsfähig
Laut dem Analysten des Thinktanks International Institute for Strategic Studis (IISS) seien „erhebliche Entwicklungsaktivitäten sichtbar“ an fünf Standorten, die mit der Produktion von Festtreibstoffen in Zusammenhang stünden. Jüngste Satellitenbilder ließen demnach darauf schließen, dass an mehreren Standorten Bauarbeiten stattfänden. Wie er zusammenträgt, sollen in diesem Rahmen sowohl stillgelegte Anlagen aus der Sowjetzeit reaktiviert, als auch neue Infrastruktur angelegt werden. „Diese Arbeit ist bemerkenswert, da es in den letzten 30 Jahren kaum Anzeichen für einen Ausbau oder eine Sanierung gab. Erst im Jahr 2023, drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, schienen erhebliche Investitionen im Gange zu sein“, schreibt Hinz.
Offenbar sieht sich Russland trotz westlicher Sanktionen handlungsfähig. „Es ist unrealistisch zu erwarten, dass Russland jemals die Raketen ‚ausgehen‘ werden. Trotz Sanktionen und Exportkontrollen erscheint es wahrscheinlich, dass Russland in der Lage sein wird, die Langstreckenangriffskapazität zu produzieren oder anderweitig zu erwerben, die erforderlich ist, um der Bevölkerung, Wirtschaft und dem Militär der Ukraine erheblichen Schaden zuzufügen“, sagt Ian Williams. Für den Analysten des US-Thinktanks Center for International and Strategic Studies (CSIS) sei der Angriff Russland mit einer Waffe wie der Oreschnik insofern nahezu folgerichtig.
Sanktionen als Aggression: Belarus sieht sich zur Stationierung der Oreschnik offenbar genötigt
Verantwortlich für die Nachrüstung Russlands mit hoch entwickelten Raketensystemen zeichnet die Tactical Missiles Corporation (KTRV); verantwortlich also jetzt auch für die Oreschnik – allerdings sieht sich gerade dieses Unternehmen aufgrund westlicher Sanktionen vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Bereits im März des ersten Kriegsjahres, also nur wenige Tage nach Beginn der Invasion im Februar 2022, hatte beispielsweise das US-Finanzministerium erklärt, dieses Unternehmen zu sanktionieren. Das Office of Foreign Assets Control (OFAC) des US-Finanzministeriums hatte auf seiner Sanktionsliste „Dutzende russische Rüstungsunternehmen, 328 Mitglieder der russischen Staatsduma und den Chef von Russlands größtem Finanzinstitut“, wie das Ministerium mitteilte.
Gerade Belarus macht aktuell propagandistisch mobil – der Verbündete sieht sich zur Stationierung der Oreschnik offenbar genötigt – hysterische Kommentare „im Informationsraum unserer nächsten Nachbarn“, nennt Andrei Krivosheyev die Befürchtungen in Polen, dem Baltikum und der Ukraine; getrieben von der „militaristischen und chauvinistischen Wut, in die sich die Eliten Polens und der baltischen Staaten hineingesteigert haben“, wie der Vorsitzender des belarussischen Journalistenverbandes über den staatlichen Sender tönt.
Kieler Experten schlagen Alarm: Russlands Kampfkraft nimmt ständig zu
Die intrinsische Motivation der Russischen Föderation und ihrer Verbündeten scheint der größte Vorteil gegenüber den westlichen Ländern zu sein. Das Institut für Weltwirtschaft (IFW) in Kiel unterlegt diese These mit konkreten Zahlen: Russlands Kampfkraft nehme ständig zu, hat das IFW im September veröffentlicht. „Die Produktionskapazität des Landes ist inzwischen so hoch, dass es in etwas mehr als einem halben Jahr das Äquivalent des gesamten Arsenals der Bundeswehr produzieren kann. Seit dem Angriff auf die Ukraine hat Russland seine Kapazität zur Herstellung wichtiger Waffensysteme deutlich erhöht – bei Langstrecken-Luftabwehrsystemen etwa um den Faktor zwei und bei Panzern um den Faktor drei“, schreiben Guntram Wolff und Ivan Kharitonov.
Die IFW-Autoren stellen auch klar, dass das Know-how Russlands in der Produktion neuerer Waffensysteme ebenfalls gewachsen sei – obwohl für die Raketenproduktion keine Zahlen vorliegen, sei die Effektivität Russlands in der Produktion von Drohnen um das Sechsfache gestiegen. Die aktuelle Situation sei insofern für die Nato bedrohlich – eine diplomatische Lösung des Konflikts für den Westen lebensgefährlich, so die Autoren: „Ein Waffenstillstand in der Ukraine würde es Russland ermöglichen, seine militärischen Vorräte in beispiellosem Ausmaß aufzufüllen.“
„Kalaschnikow-Ökonomie“: In Russland wurde die Produktion gesteigert – ohne Murren der Belegschaften
Die Vermutung des ukrainischen Nachrichtendienstes ob der russischen Raketenproduktion mag insofern dazu dienlich sein, Stimmung zu machen. Allerdings schiene töricht zu sein, sie gänzlich von der Hand zu weisen und sie als spekulativ abzutun. „Wie konnte die russische Rüstungsindustrie die Produktion bestimmter Waffen und Munition in relativ kurzer Zeit so deutlich steigern?“ fragt Julian Cooper. Der Analyst des britischen Thinktanks Royals United Services Institute (RUSI) findet mehrere Erklärungsansätze. Striktes Durchgreifen der für die Produktion Verantwortlichen, beispielsweise. Aber ebenso offenbar eine simple Steuerung der Arbeitsmoral direkt an den Bändern.
In Russland wurde schlichtweg die Produktion gesteigert – wohl ohne Murren der Belegschaften: Unter den Mobilisierungsbedingungen im Verteidigungssektor hätten die Arbeitnehmer kaum eine andere Wahl gehabt, als sich an anspruchsvollere Arbeitsbedingungen anzupassen und häufig an Wochenenden oder Feiertagen zu arbeiten, schreibt Cooper. Ihm zufolge hätten hätten die Rüstungsarbeiter in großen Unternehmen der Verteidigungsindustrie der Region Swerdlowsk Ende 2022 eine Sechs-Tage-Woche geleistet mit bis zu zwölf Stunden pro Tag – aber dafür eine Lohnerhöhung erhalten.
Cooper zitiert in dieser Hinsicht den RUSI-Analysten Richard Connolly, der im Februar gegenüber dem britischen Guardian zugespitzt hat, Russland verfüge über eine „Kalaschnikow-Ökonomie“: „ziemlich einfach, aber langlebig und für den Einsatz im großen Stil und in Konflikten konzipiert“.