Starker Film „in menschenrechtlich windigen Zeiten“
Was verbindet zwei ältere Menschen in Deutschland mit einer jungen Geflüchteten aus Syrien? Die lebensbestimmende Erfahrung von Krieg, Diktatur und existenzieller Not. Dass sie wissen, was es bedeutet, komplett neu anfangen zu müssen. Die aktuelle Sorge um Demokratie, Frieden und Zukunft. Aber auch die Person der Allgäuer Filmemacherin Veronika Dünßer-Yagci, die sie und ihre Schicksale in ihrem neuen Video „Linking History“ in einem künstlerisch-dokumentarischen Werk zusammenführt.
Kempten – „Für die Geschichte teilen wir einen Raum“, heißt der Untertitel des Films. „Soziale Räume sind nicht einfach gegeben, sie haben keine statische Größe“, erklärt Prof. Dr. Gökçen Yüksel in einer Szene. „Sie werden von Menschen hergestellt und definiert, sie bleiben immer dynamisch.“ Bereits in der Anfangssequenz deuten drei von Nour Hamo (für das Allgäuer Publikum bereits aus Dünßer-Yagcis „Keep on Going – Menschenwürde jetzt“ bekannt) in der historischen Kulisse des APC bewegte Spiegel darauf hin, wie in menschlicher Interaktion Bilder sich ändern und neue produzieren. Jeanine und Jairo Bravo, Nia Dekova und Madeline Wölfle von der J & J Dance Company „erobern“ und verändern mit ihrer eingeblendeten Tanz-Performance den städtischen Raum, ausgehend vom heimischen Rokokosaal ihrer Tanzschule bis zu den öffentlichen und kommerziellen Räumen der Stadt. Jede Bewegung sei improvisiert, die Regisseurin habe ihnen nur Themen und Gefühle vorgegeben, erzählte Jeanine Bravo bei der Premiere im Lollipop-Verein. Hier kam auch eine zweite Kamera mit Sophia Yagci zum Einsatz. Die Musik von Rupert Volz sei erst später hinzugefügt worden.
Dünßer-Yagci lobte in ihrer Einführung den Mut von Dr. Christine Buschbeck und Hermann Fuß, sich jeweils in einem Zweiergespräch mit Hamo vor der Kamera zu öffnen. Die Zuschauer nehmen schnell wahr, wie sie – vom Gesprächspartner gespiegelt – anfangen, ihre Erinnerungen genauer zu reflektieren und mit denen des Gegenübers zu vergleichen. Im Dialog zwischen den beiden Personen und den beiden Erzählungen entsteht ein neues Narrativ, eine neue über die eigenen Grenzen hinaus geltende Erinnerungskultur, mit sehr starkem Gegenwartsbezug.
Fluchterfahrungen
Buschbeck und Hamo verbindet die Fluchterfahrung in den jungen Lebensjahren. Die 1941 im Erzgebirge Geborene floh mit 18 aus der DDR, die 24-Jährige 2015 aus Syrien. Was es bedeutet, alles hinter sich zu lassen, was einem das Gefühl der Heimat gegeben hatte, die Eltern wahrscheinlich nie mehr sehen, bei der Beerdigung von geliebten Menschen nicht dabei sein zu können, in der Fremde neu anzufangen, wissen sie beide. Die damit verbundenen Gefühle schaffen schnell eine Brücke zwischen den beiden Frauen. Sie fangen an, gemeinsam über Begegnungsmöglichkeiten zwischen Jung und Alt nachzudenken. Sie sprechen über mit Schlüssel abgesperrte Schubladen im Kopf, die man ab und zu aufschließen sollte. Sie reden über universelle menschliche Werte und über die individuelle Entscheidung, wie man diese konkret leben möchte.
Krieg und Zerstörung
Den 86-jährigen Fuß und die 24-jährige Hamo verbinden die eingebrannten Erinnerungen an den Krieg, die Bombardements, die entstellten und verbrannten Leichen, die Zerstörungen, die prekäre Versorgungslage, der typische Geruch des Krieges, die Gefühle der Angst und Ungewissheit. Der Wunsch, das nie wieder erleben zu müssen, ist in beiden tief verwurzelt. Im Gespräch haben sie schnell entdeckt, dass sie beide helfende Berufe hatten bzw. haben. Er als Berufsberater, sie als Krankenschwester. Gute Laune ausstrahlen und menschlich bleiben, das können Leute am besten, die selbst gelitten haben, waren sie sich einig.
Ausgrenzungserfahrungen spielen in beiden Gesprächen eine wesentliche Rolle. Hamo berichtet zum Beispiel über eine Lehrerin in ihrer Ausbildung, von der sie „viele schlechte Worte“ zu hören bekam. Buschbeck erzählte über die Diskriminierung, die sie in der DDR wegen ihres Vaters, der evangelischer Pfarrer war, erleben musste. „Faschisten gibt es immer. Ich verstehe nicht, wie man auf deren Seite stehen kann. Sie sehen die Folgen nicht“, sagte Fuß.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
Dünßer-Yagci sprach in ihrer Einführung über die Gegenwart als „menschenrechtlich windige Zeit“. In einem kurzen Vortrag zwischen den beiden Zweiergesprächen erklärt Prof. Dr. Gökçen Yüksel, die seit einem Jahr im Fachbereich Soziale Arbeit an der Hochschule Kempten lehrt, die wichtigsten wissenschaftlichen Hintergründe zu diesem Thema, so einfach und zugleich tiefgründig, dass man ihre Studierenden nur beneiden kann. Ein paar Beispiele: Eine Bevölkerungsgruppe aufgrund eines tatsächlichen oder zugeschriebenen Merkmals auszugrenzen, ist die Definition von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nach Wilhelm Heitmeyer. Die jährliche Mitte-Studie belegt, dass in Deutschland die Ränder erstarken und immer mehr Menschen rechtsextremen Einstellungen zustimmen. Die Politik übernimmt immer mehr die Sprechweise, nach der Migranten ein Störfall und keine Notwendigkeit oder Chance wären. Etwa sieben Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund (dafür reicht es, wenn ein Elternteil nicht als Deutscher geboren wurde) ohne eigene Migrationserfahrung, im Alltag werden sie trotzdem wie Migranten behandelt. Aufgrund eines völkischen Verständnisses wird vielen abgesprochen, dass sie Deutsche sind.
Träger des Filmprojekts war der Lollipop e. V., die Finanzierung übernahm das Projekt „Demokratie leben!“, die Schirmherrschaft Zweite Bürgermeisterin Erna-Kathrein Groll.
Weitere Termine
Das Colosseum Center in Kempten zeigt den Film am Freitag, 10. Januar, um 9.30 Uhr für alle Schulklassen ab der 9. Klasse. Dünßer-Yagci wird zur Einführung und hinterher zum Gespräch anwesend sein. Die Anmeldung und Infos für die Schulkassen kann über info@kinokempten.de erfolgen, ansonsten telefonisch unter 0831/22507 oder über die Online-Ticketkasse. Am 11. April präsentiert das Kino Loft in Oberstdorf den Film zusammen mit zeitgenössischer Tanzperformance im Vorfeld. Auch Schulvorstellungen sind dort in Planung. Außerdem soll „Linking History“ demnächst im Zumsteinhaus in Kurzform von 15 Minuten im Programm des Kellerkinos zu den Öffnungszeiten zu sehen sein. Für den 1. Oktober 2025 ist im Altstadthaus Kempten eine Filmvorführung mit Gespräch geplant. Weitere Informationen: www.videokunst-allgaeu.de/linkinghistory/
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