Neue schwere Vorwürfe gegen Grünen-Ministerin: „Sie hat uns ins Gesicht gelogen“

Zehn Monate nach dem islamistischen Attentat in Solingen mit drei Toten am 23. August 2024 setzen FOCUS-online-Recherchen NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) erneut unter Druck. 

Die chronologische Analyse der Telefonate und Chatverläufe dokumentiert, dass die Ministerin am Tag nach dem Anschlag und der Festnahme des syrischen Tatverdächtigen Issa Al Hasan am späten Abend komplett auf Tauchstation gegangen ist. Selbst für ihren Staatssekretär war Paul nicht zu erreichen. 

Offenbar hatte die Grünen-Politikerin die Tragweite der tödlichen Messerattacke und ihre Verantwortung zur Aufklärung tagelang nicht erkannt.

Solingen-Anschlag: Ministerin Josefine Paul erkannte Tragweite offenbar tagelang nicht

Seit Monaten durchleuchtet ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss das Geschehen rund um das Attentat in Solingen. Die Auswertung befeuert Vorwürfe der Landtagsopposition, die Paul ein miserables Krisenmanagement nach dem Anschlag unterstellt.

FOCUS online schildert anhand der Kommunikation innerhalb des Ministeriums das ganze Desaster. 

Am Nachmittag des 24. August befindet sich der gesuchte Attentäter noch auf der Flucht. Nahe dem Tatort hat er einen Rucksack mit seinen Papieren verloren, folglich kennen die Ermittler seinen Namen nebst Adresse in einer kommunalen Flüchtlingsunterkunft in der Solinger City. Umgehend fordert man die Ausländerakte beim zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an. 

Um 17.33 Uhr gehen die Unterlagen bei der Sicherheitskonferenz in Pauls Ministerium ein. Da haben Medien, darunter FOCUS online, bereits gemeldet, dass eine Abschiebung des Syrers nach Bulgarien gemäß des Dublin-Abkommens in der Vergangenheit gescheitert war.

Um 18.02 Uhr wählt Abteilungsleiter Pauls Nummer - keine Reaktion

An der Spitze im Flüchtlingsministerium herrscht Chaos. Um 17.54 Uhr ruft Staatssekretär Lorenz Bahr seine Kollegen aus dem Innenministerium, Daniela Lesmeister, an, um mehr über den Attentäter zu erfahren. Die aber hält sich bedeckt.

Gegen 18 Uhr versucht Bahr die Abteilungsleiterin „Flucht“ zu erreichen, um weitere Details zur Ausländerakte zu ermitteln. Die Ministeriale geht nicht ran. Alarmiert durch die Online-News versucht Bahr eine Minute später seine Chefin zu erreichen, die sich in Frankreich befindet, um dort am Sonntag, den 25. August, eine Rede zum Gedenken an ein SS-Massaker im Zweiten Weltkrieg zu halten. 

Um 18.02 Uhr wählt er die Nummer ihres zweiten Mobiltelefons an. Keine Reaktion. Schließlich erreicht er den persönlichen Referenten Pauls. Das Gespräch währt zwei Minuten. Bis heute bleibt der Inhalt unklar.   

Um kurz vor 21 Uhr funkt Paul ihren Staatssekretär an - diesmal geht der nicht ran

Die Ereignisse überschlagen sich. Um kurz vor 21 Uhr funkt Paul ihren Staatssekretär an. Dieses Mal geht dieser nicht ran. Erst um 21.14 Uhr schaltet sich die Abteilungsleiterin Flucht ein und erkundigt sich bei ihren Mitarbeitern, ob der mutmaßliche Attentäter aus der Kommunalen Unterkunft in der Solinger City stamme. Die Untergebenen unterrichten die Ministeriumsspitze in einer Mail um 21.22 Uhr über den gesamten Sachstand zum Ausländerstatus von Issa Al Hasan. 

Um 22.47 Uhr stellt sich der Gesuchte der Polizei. Paul aber wird nicht über die Festnahme unterrichtet. Still ruht der See. 

Reul fragt Paul: „Guten Morgen, wann kann ich Sie heute anrufen?“ 

Am Sonntagmorgen setzt sich das Chaos fort. Um 8.25 Uhr will NRW-Innenminister Herbert Reul von seiner Amtskollegin wissen: „Guten Morgen, wann kann ich Sie heute anrufen?“ Keine Antwort. 

Erst zweieinhalb Stunden später meldet sich Pauls persönlicher Referent bei seinem Pendant im Innenministerium. Doch auch hier kommt es nach erneutem Versuch nur zu einem Kontakt von 33 Sekunden. Hektische Telefonate schließen sich an. Mit der Leiterin „Flucht“, mit der Pressechefin der Ministerin. Auch schaltet sich Staatssekretär Bahr wieder ein. Es geht drunter und drüber. Einzig Ministerin Paul scheint abgetaucht zu sein.

Jan Miebach, Vizeregierungssprecher, wählt die Ministerin um 12.19 Uhr ergebnislos an. Zwischen 12.44 Uhr bis 12.59 Uhr ruft die Wirtschaftsministerin und stellvertretende Regierungschefin, Mona Neubaur, bei ihrer Parteifreundin an. Der Grünen-Führung ist längst klar, dass man Erklärungen zum Ausländerstatus des syrischen Terroristen abgeben muss, schließlich mehren sich die negativen Schlagzeilen. Zudem ist eine Kabinettssitzung geplant. Ministerin Paul hingegen antwortet nicht.

Erst im dritten Meeting lässt sich Grünen-Politikerin zuschalten 

In der Folge häufen sich die Telefonkonferenzen im Flüchtlingsministerium. Erst im dritten Meeting lässt sich die Grünen-Politikerin um 14.19 Uhr zuschalten - und zwar für eine halbe Stunde. 

Erst als sich NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) meldet, unterbricht Paul zeitweilig und hört zu. Was besprochen wird, steht noch nicht fest. Aber um 15 Uhr hält der CDU-Politiker eine digitale Kabinettssitzung ab, um den Solinger Fall zu analysieren. 40 Minuten später erreicht Vizeministerpräsidentin Neubaur endlich ihre Parteifreundin. Die Unterredung dauert 15 Minuten.

Acht Stunden nach der Anfrage am Morgen meldet sich Paul bei ihrem Innenressortkollegen: „Lieber Herr Reul, wir haben uns ja nicht erreicht. Besteht aktuell Ihrerseits weiterer Austauschbedarf? Jenseits des im Kabinett Berichteten habe ich auch noch keine weiteren Erkenntnisse.“

„Kein Anschluss unter ihren Nummern“: Ministerium war bereits viel früher im Bilde

Dabei wusste man alles zu der Asyl-Akte aus dem BAMF. Gleich mehrfach hatte Paul betont, man habe erst zwei Tage nach dem Attentat „konkrete Informationen zu der Person inklusive des Namens erhalten“. Erst dann konnte eine „weitere Aufklärung unsererseits erfolgen, die wir sofort eingeleitet haben“.

Tatsächlich aber scheint das Gegenteil der Fall gewesen zu sein. Das Ministerium war bereits viel früher im Bilde, nur Ministerin Paul war 24 Stunden bis zum Sonntagmittag nicht erreichbar, um das Krisenmanagement zu koordinieren. Letztlich brauchte die Grünen-Politikerin vier Tage, um eine öffentliche Einschätzung zu dem Fall abzugeben.   

„Ministerin Paul hat uns Abgeordneten, dem Parlament und der Öffentlichkeit monatelang ins Gesicht gelogen!“, erklärte Lisa Kapteinat, die SPD-Obfrau des parlamentarischen Untersuchungsausschusses gegenüber FOCUS online. 

Anders als Paul stets behauptet habe, „lagen in ihrem Ministerium schon frühzeitig Informationen vor, die deutlich gemacht haben, dass ihre Zuständigkeit betroffen ist. Dennoch war sie tagelang abgetaucht - offenbar in den Stunden nach Bekanntwerden der Informationen auch nur schwer oder sogar gar nicht zu erreichen“, führte die Landtagsabgeordnete aus. Das zuständige Ministerium sei laut Kapteinat in dieser Zeit scheinbar viel zu lange führungs- und kopflos gewesen – „kein Anschluss unter ihren Nummern“.