Ausländerakte offenbart, wie Solinger Messerattentäter das BAMF zum Narren hielt

Die Anhörung ist reine Routine. Nach seinem Asylantrag am 27. Januar 2023 erscheint der Syrer Issa al Hasan um neun Uhr morgens vor einem Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in der Bielefelder Außenstelle. Ein Dolmetscher übersetzt die Fragen des Prüfers für den Asylsuchenden ins Arabische. Der BAMF-Bedienstete arbeitet einen Fragenkatalog mittels Multiple-Choice-Verfahren ab. Viele Felder bleiben offen. Einzig der Reiseweg über die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland liefert aufschlussreiche Informationen. 

Offenbar erfüllt der Syrer alle Voraussetzungen für einen Abschiebe-Fall nach dem europäischen Dubliner Flüchtlingsabkommen, da er bereits in Bulgarien als Asylbewerber per Fingerprint über das Eurodac-System aktenkundig geworden ist. Nach zehn Minuten endet die Anhörung.

Solingen-Anschlag: die Ausländerakte des Angeklagten Issa Al Hasan 

Knapp anderthalb Jahre später ersticht der damals 26-jährige Syrer im Namen der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) auf einem Stadtfest in Solingen drei Besucher und verletzt zehn Menschen teils schwer. Inzwischen hat die Bundesanwaltschaft Issa Al Hasan wegen dreifachen Mordes, und zehnfachen Mordversuches sowie der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung bei einem Staatsschutzsenat des Düsseldorfer Oberlandesgerichts angeklagt. Am 27. Mai beginnt die Hauptverhandlung.

In dem Prozess wird sicherlich auch das Versagen der Ausländerbehörden zur Sprache kommen, allen voran durch das BAMF und die zuständigen Stellen in NRW. Insbesondere Landesflüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) geriet wegen des miserablen Krisenmanagements ins Gedränge. Offenbar agierte die Ministeriumsspitze in den Tagen nach dem Attentat wie im Blindflug, hielt sich bedeckt, obschon ihre Mitarbeiter bereits im Bilde waren.

FOCUS online hat nun die Ausländerakte des Angeklagten Issa al Hasan eingesehen. Die Unterlagen dokumentieren laxe Kontrollen durch das BAMF und die Landesämter. Demnach sind niemandem die falschen Angaben des Asylbewerbers aufgefallen. Die Akte belegt, wie leicht etwa mutmaßliche Terroristen aus dem arabischen Raum die hiesigen Ausländerbehörden täuschen können, wie dürftig die Einreisekontrollen ausfallen.

„Die haben nicht erlaubt, dass wir eine ID-Karte erhielten“

Nach der ersten Anhörung wandert die Akte des Syrers zum Dublin-Ressort im BAMF. Am 23. Februar wird Al H. erneut vernommen. Das Gespräch dauert immerhin eine Stunde. Gleich zu Anfang beteuert der Flüchtling, ein Onkel mütterlicherseits namens Nosr Abdullah Al Hussein lebe in Deutschland. Im nationalen Visa-Abfragesystem MARIS findet sich der Name aber nicht.

Dass er über keine ID-Karte verfügt, erklärt der Asylsuchende damit, der IS habe in seiner Region Deir ez-Zor geherrscht. „Die haben nicht erlaubt, dass wir eine ID-Karte erhielten.“ In der weiteren Befragung spielen diese Aussagen keine Rolle. Gilt Issa Al H. doch als Abschiebekandidat via Bulgarien. Da bedarf es keiner tiefergehenden Sicherheitsüberprüfung.

Zu den Fluchtgründen befragt, behauptet der Asylbewerber, dass ihm in seiner Heimat der Militärdienst drohe. Zugleich bat er darum, ihn nicht nach Bulgarien abzuschieben. „Die Behörden dort schicken Menschen wieder nach Syrien zurück“, so sein Fazit.

Am 27. Februar ergeht der BAMF-Bescheid. Das Asylgesuch wird abgelehnt, die Ausreise nach Bulgarien angeordnet. Von da an beginnt die Sechs-Monatsfrist, in der die Abschiebung zu erfolgen hat, andernfalls fällt Issa Al H. in die Zuständigkeit Deutschlands.

Syrer findet eine Anwältin in Dresden

Der Syrer findet eine Anwältin in Dresden, die beim Verwaltungsgericht Minden Einspruch gegen die Abschiebeverfügung einlegt. Am 21. März 2023 erhält die zuständige Zentrale Ausländerbehörde Bielefeld die Flugdaten für die Rückführung nach Bulgarien. Am 5. Juni soll es um 7.20 Uhr mit dem Flieger von Düsseldorf nach Warschau gehen und von da aus weiter nach Sofia.

Als Mitarbeiter der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld in der Nacht des 5. Juni Issa Al H. aus seiner Unterkunft abholen wollen, ist dieser verschwunden. Kurz darauf taucht der Gesuchte wieder auf. Die Abschiebung scheitert. 

Obschon noch Zeit bleibt, organisiert das zuständige örtliche Ausländeramt keinen neuen Abschiebeflug. Im BAMF spricht man von einem dilettantischen Abschiebeversuch durch die NRW-Behörden. „Es gibt nur zwei Bundesländer, bei denen es immer wieder Probleme bei Abschiebungen gibt: Das ist Thüringen und Nordrhein-Westfalen." Die Aussage belegt einmal mehr den realen Murks im deutschen Abschiebedickicht.  

August 2023 erhält Issa Al H. subsidiären Schutzstatus

Das gerichtliche Verfahren geht Ende August 2023 zu den Akten. Issa Al H. erhält als Syrer einen subsidiären Schutzstatus. Er kommt in eine Flüchtlingseinrichtung in der Solinger City.

Noch einmal unterzieht sich Issa Al Hasan beim BAMF einer Anhörung. „Aber auch hier hat sich nichts Auffälliges ergeben“, heißt es.

Bis heute ist nicht ganz klar, ob Al Hasan bereits als Dschihadist durch den IS nach Deutschland entsandt wurde oder sich erst kurz dem Anschlag radikalisiert hat. Laut Bundesanwaltschaft soll der Angeklagte einer radikal-islamistischen Ideologie des IS angehangen haben. Vor dem Hintergrund erfolgte der Anschlag. Die Opfer sah er als „Repräsentanten der von ihm abgelehnten westlichen Gesellschaftsform an“.

Laut Anklageschrift soll der Angeklagte im August 2024 über einen Messenger-Dienst Kontakt zu mehreren IS-Anhängern aufgenommen haben. Diese hätten ihn in seinem Vorhaben unterstützt und zugesichert, der IS würde für die Tat Verantwortung übernehmen sowie diese für Propagandazwecke nutzen.

Am 23. August 2024 greift Al Hasan zum Messer

Am 23. August 2024 greift Al Hasan zum Messer, leistet dem IS einen Treueschwur und attackiert die Ungläubigen (Kuffar). Vor seinem Terroranschlag agierte er geschickt unter dem Radar der hiesigen Ausländerbehörden in Land und Bund. Niemandem fiel auf, dass der syrische Migrant sich längst als „Heiliger Krieger“ sah.   

Seit Wochen durchleuchtet ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im NRW-Landtag das Abschiebeversagen im Solinger Fall. Drei hochkarätige Sachverständige übten im Untersuchungsausschuss eine vernichtende Kritik zum staatlichen Vorgehen. 

Daniel Thym von der Universität Konstanz und Martin Fleuß, Richter am Bundesverwaltungsgericht, zeigten eklatante Missstände im deutschen und europäischen Asylsystem auf. Neben den beiden Juristen war der emeritierte Professor für Politikwissenschaften, Dietrich Thränhardt von der Universität Münster, als Sachverständiger für Migration geladen.

Laut Bundesrichter Fleuß haben „strukturelle Defizite des deutschen und des europäischen Migrationsrechts den Boden für den Anschlag von Solingen bereitet“. Und sie könnten „jederzeit für die Verübung weiterer Anschläge vergleichbarer Art ausgenutzt werden“.

Daniel Thym: „System von Designfehlern durchzogen“

Seit Jahren schon gebe es „tiefgreifende strukturelle Verwerfungen", bestätigte Professor Thym. Dublin könne „nicht funktionieren, weil das System von Designfehlern durchzogen ist.“ Die Probleme seien „hausgemacht“. Etwa die komplizierte Struktur in den personell meist unterbesetzten Behörden, die oft nicht wüssten, wer in den Einzelfällen „die letzte Anweisung“ geben dürfe - was zwangsläufig zu einer „Verantwortungsdiffusion“ führe. 

Oder die Tatsache, dass es viel zu wenig Abschiebehaft-Plätze gebe, so dass zahlreiche Betroffene schlichtweg verschwunden seien, wenn sie abgeholt werden sollen. Überall sei „Sand im Getriebe, auch in NRW“, monierte der Rechtsprofessor.

Die Überstellungen in das eigentlich für das Asylverfahren zuständige EU-Land sei ein Desaster. Die Rückführungen würden „sehr, sehr häufig scheitern“, so Thym: „2023 und 2024 zusammen lag die Erfolgsquote für Italien nahe null, für Kroatien bei drei und für Bulgarien bei sieben Prozent.“

Dieser kalte Boykott des Dublin-Systems durch die Ersteinreiseländer habe Tradition. Selbst Frankreich hätte weniger als 50 Prozent der Leute zurückgenommen. „Insgesamt überstellte Deutschland in den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres 4900 Personen an andere EU-Länder und übernahm, weil Deutschland zuständig ist, 3900 Menschen von dort.“

Dublin-System gleiche „einem Kampf gegen Windmühlen“

So gleiche das Dublin-System „einem Kampf gegen Windmühlen“, führte Thym aus. Morgens rücküberstellte Personen könnten um Mitternacht wieder in Deutschland sein. Derzeit lebten hierzulande 15.000 Migranten, die bereits via Dublin-Verordnung in ihre Ersteinreiseländer überstellt wurden, aber wieder nach Deutschland zurückgereist seien.

„Selbst bei einer Rückkehr sind Zurückweisungen im Normalfall dann rechtswidrig“, betonte der Jurist. Die Folge: Das Asylverfahren geht von Neuem los. Bei einer Ablehnung müsse die Abschiebung binnen sechs Monaten erfolgen. Wenn das nicht gelinge, sei Deutschland halt auch offiziell zuständig für das oft jahrelang dauernde „eigentliche Asylverfahren“.

Schon 2016 habe die Bundesregierung festgestellt, dass die Asylverfahren mit einer durchschnittlichen Bearbeitungsdauer von sechs Monaten viel zu lange dauerten, erläuterte der Migrationsexperte Thränhardt: „Trotz dieser Erkenntnis sind die Verfahren aber nicht schneller geworden. Die reale Zahl liegt heute bei 8,7 Monatem“, so der Professor. 

Diese lange Zeit der Unterbringung „mit einer unsicheren Perspektive“ begünstige eine „Traumatisierung oder Retraumatisierung“. In vielen Fällen führe dies zu einem „Rückzug in die Depression“, sagte Thränhardt. „Aber in einer minderen Zahl von Fällen hat das eben die Konsequenzen, über die wir gerade schon gesprochen haben: Aggressivität und im Extremfall diese Anschläge.“