Europas Sanktions-Bazooka: Friedrich Merz droht die nächste Stunde der Wahrheit
Wie – Sie glauben nicht, dass Putin nach Berlin marschiert, nachdem er in der Ukraine gesiegt hat? Oder gehören Sie zu jener Minderheit in Deutschland, die doch davon überzeugt ist, dass die Ukraine nur der Auftakt ist für einen russischen Eroberungsfeldzug in Europa?
Mit dem Glauben ist es so, dass es kein Wissen ist. Im Moment entscheidend ist nicht, was die Bevölkerung den Russen unterstellt oder nicht. Entscheidend ist, wovon die politischen Entscheidungsträger im Westen überzeugt sind und welche Schlussfolgerungen sie daraus ziehen. Zum Beispiel Friedrich Merz.
An diesem Donnerstag bekommt die von Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ ihr erstes Großleinwandbild: Der deutsche Bundeskanzler und der deutsche Verteidigungsminister starten gemeinsam eine Brigade in Litauen. Knapp 5000 Soldaten werden in dem – vielleicht muss man das jetzt so formulieren – „Frontstaat“ stationiert.
Sie haben ihre Furcht vor den Russen nicht verloren
Sie kommen mit ihren Waffen und sie kommen mit ihren Familien. Die Kinder dieser deutschen Soldaten werden in Litauen zur Schule gehen. Und sie sind willkommen. Was keine Selbstverständlichkeit ist – nach dieser leidvollen Historie.
Denn die Balten haben sie von deren allerübelster Seite kennengelernt – Stalin wie Hitler. Nach dem Abschluss des Diktatorenpakts 1939 überfiel Stalin das Baltikum – und startete mit der Deportation der Bevölkerung nach Sibirien.
Noch während dieser sowjetischen „Säuberung“ überfielen Hitlers Truppen auf ihrem Weg nach Russland die drei von Russen besetzten baltischen Staaten – und ermordeten mehr als 200.000 Juden dort. Unabhängig wurden Litauen, Estland und Litauen erst nach dem Untergang der Sowjetunion. Für sie wurden dies ihre Tage der Befreiung.
Und doch haben sie ihre Furcht nicht verloren vor den Russen. Heute sagt der litauische Inlandsgeheimdienst, die Russen seien nicht in der Lage, einen „groß angelegten konventionellen Krieg“ gegen die Nato zu starten, „begrenzte militärische Aktionen“ gegen einen oder zwei Nato-Mitgliedsländer im Osten aber sehr wohl.
Donald Trump zieht sein "eigenes Ding" mit Putin ab
In diesen Tagen wird viel geschrieben über ein drohendes Ende des „Westens“ – weil Donald Trump sein „eigenes Ding“ mit Putin abzieht. Das ist mindestens ungenau, man kann es im Baltikum, einem der geopolitischen Hotspots russischer Bedrohung, studieren.
Deutsche Soldaten schützen jetzt Litauen, aber: Britische Soldaten schützen Estland, Kanadier Lettland. Diese beiden West-Länder bauen den Schutz der Ostflanke der Nato schon in den kommenden Jahren weiter aus. Eine ganze Brigade werden auch die Kanadier entsenden.
Will sagen: Auch wenn es in der Ukraine noch nicht funktioniert, im Baltikum bringen es gerade westliche Staaten zum funktionieren: den Schutz der Nato-Ostflanke und damit ihrem verwundbarsten Teil. Das ist wichtig, nicht nur für die Balten, die in nachvollziehbarer Furcht vor den Russen leben, sondern:
Auch als Antwort auf die Frage am Anfang dieses Textes. Wer verhindern will, dass Putins Russen überhaupt auf die Idee kommen, Richtung Berlin zu marschieren, muss mit der Prävention im Baltikum anfangen.
Europa hat der Ukraine die Mitgliedschaft in der EU versprochen
In den Worten von Merz: „Die Sicherheit unserer baltischen Verbündeten ist auch unsere Sicherheit.“ Es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen den baltischen Staaten und der Ukraine: Sie sind Mitglied der Nato – ein russischer Angriff auf einen dieser Staaten würde nach Artikel Fünf des Nato-Vertrags wie ein Angriff auf jeden anderen Bündnispartner gewertet.
Europa hat der Ukraine die Mitgliedschaft in der EU versprochen, bei der Nato sieht es inzwischen anders aus. US-Präsident Trump ist bereit, ein entsprechendes Versprechen der Nato-Mitglieder an die Ukraine zu kassieren, nach dem Motto: Militärische Neutralität für Frieden.
Aber: Auch Deutschland hält für die Ukraine die Tür zur Nato weiter offen, so steht es im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Trump dagegen sagt zweierlei: Die Ukraine sei nicht der Krieg der USA, und: Putin wolle keinen Frieden dort.
Merz droht die nächste Stunde der Wahrheit
Woraus sich ergibt: Friedrich Merz hat - hinterher ist man auch als Journalist immer schlauer – den Mund zu voll genommen, als er in Aussicht stellte, die Amerikaner zögen bei den Sanktionen gegen Putins Russen mit. Also droht dem Bundeskanzler, wie den anderen Europäern, die mit dabei waren, Macron, Tusk und Starmer, nun die nächste Stunde der Wahrheit.
Wolodymyr Selenskyj legt den Europäern schon in der kommenden Woche den nächsten – und dann drastischen – Sanktionsforderungskatalog auf den Tisch. Alle von den Europäern beschlagnahmten russischen Vermögenswerte sollen dann, darüber berichtet Reuters, in die Ukraine fließen. Das hieße: knapp 300 Milliarden Euro.
Und es sollen sogenannte Sekundärsanktionen beschlossen werden – gegen Staaten, die über die russische Schattenflotte russisches Öl beziehen. Das würde etwa bedeuten: Europäische, also auch deutsche Sanktionen gegen Indien wegen des Ukraine-Kriegs.
Bisher gehen die Europäer nicht heran an diese Sanktions-Bazooka – sie befürchten Rückwirkungen auf die Stabilität des globalen Finanzsystems, wenn klar würde, dass ein Staat sich nicht mehr auf die Sicherheit seiner Einlagen verlassen kann – und sei es ein übler Staat.
Lange sagt: "Wir Europäer müssen es selbst machen"
Der Sicherheitsexperte Nico Lange sagt, letztlich werde niemand, die Trump und auch nicht der Papst, für die Europäer die Kastanien aus dem Feuer holen. „Wir Europäer müssen es selbst machen.“ Im Baltikum haben die Europäer – plus Kanada – jetzt damit angefangen.
Angefangen haben die Deutschen damit schon vor acht Jahren – 2017 kamen die ersten Bundeswehr-Soldaten nach Litauen. Aber eine ganze Brigade, plus deren Familien, ein klareres Signal könnte es kaum geben.
Und, anders als bei den Taurus-Lieferungen, ist sich die Bundesregierung hier einig. Um das zu zeigen, sind Merz und Pistorius gemeinsam nach Litauen gereist. Der Aufbau dieser Brigade startete in der Amtszeit des SPD-Politikers Pistorius.
Am Ende – und auch noch mindestens zehn Jahre – brauchen die Europäer noch die Amerikaner und ihren (nuklearen) Schutz. Das gilt gerade für die Ostflanke der Nato. Gerade weil es nun diese doppelte Bedrohung gibt – die aktive (Angriff) durch Putin, die passive (Abzug) durch Trump – ist der Schutz durch des Baltikums durch den Westen so bedeutsam.
Der Schutz Berlins fängt im Baltikum an
Und dies nicht nur, weil damit Deutschland sich herausbegibt aus seiner militärischen „Komfortzone“, wie die "Neue Züricher Zeitung" (NZZ) analysiert. Sondern auch, weil der Schutz von Berlin im Baltikum anfängt.
Russland will – nach wie vor – nicht von seinen Kriegszielen lassen. Und die sehen nicht nur die Eroberung der gesamten Ukraine vor. Sondern auch die Spaltung des Westens, das Herausdrängen der Amerikaner aus Europa.
Mit der Spaltung des Westens sind die Russen inzwischen weit gekommen – auch dank Donald Trump. Was die Eroberungspläne Russlands angeht, so halten die Europäer in der Ukraine nur halbherzog dagegen. Im Baltikum ist das völlig anders:
In Litauen haben deutsche Soldaten jetzt ihre „boots on the ground“. In der Ukraine ist daran – noch? – nicht zu denken. Das macht aktuell einen großen Unterschied.