Kempten: Erinnerungen an die Vorfahren aus dem Nordkaukasus
Kempten – Das filigrane Fayence-Körbchen steht am schönsten Platz in Dr. Irene Sakina Schweers‘ Zuhause, auf einer Säule im Wohnzimmer. Weiße Rosen zu beiden Seiten zieren das Schmuckstück aus ihrer Heimat, dem Nordkaukasus. „Es ist ein Gegenstand meiner Urgroßmutter Sharifa“, erzählt Sakina Schweers, „aber bekommen habe ich ihn von meiner Großmutter.“ Es gab sehr viele Fayence-Kunstwerke in ihrem Haus. Doch das alles ging verloren durch die Revolution und Kriege. Einzig das Körbchen hat alle Widrigkeiten überlebt.
Sakina Schweers leitet heute im Haus International die Schülerbetreuung. Geboren ist sie in Naltschik im Kaukasus, gerade an der Grenze zwischen Europa und Asien. „Früher war der ganze Landstrich Tscherkessien“, erzählt sie. Auch ihre Nationalität gibt Schweers mit „Tscherkessin“ an.
Die sowjetische Macht wünschte nicht, dass die Tscherkessen ihre eigene Sprache und Geschichte erlernen. In den Schulen hieß es, dass die Geschichte des Landes erst mit der Großen Russischen Revolution im Jahr 1917 beginne. Mit 17 Jahren fing Sakina an, die Geschichte ihrer Heimat zu entdecken.
Starkes Interesse für ihre Wurzeln
„Auch heute ist es in Tscherkessien schwer, eine eigene Rolle, eine eigene Identität zu leben“, erzählt sie. Im Sozialismus wurden die Kulturen unterdrückt. Erst mit der Perestroika sei das Selbstbewusstsein der Länder wieder erwacht, Staaten wie Georgien sind entstanden. Und die Tscherkessen begannen verstärkt, ihre Sprache und Kultur wiederzubeleben, erzählt Schweers und gibt eine Kostprobe mit einem recht kehlig klingenden Satz. Das Interesse der Pädagogin für ihre Wurzeln und die Geschichte der Tscherkessen hat sich in den Jahren nur verstärkt.
Viele von ihnen sind heute in zahlreichen Ländern verstreut. Der Zusammenhalt in den Communitys ist stark. Denn bereits 1864 waren 90 Prozent von ihnen zwangsumgesiedelt worden und in die Diaspora geschickt.
Die Flüsse waren rot vor Blut
Der Kaukasuskrieg zwischen 1817 und 1864 war blutig. Das Russische Kaiserreich versuchte, die vollständige Kontrolle über den Nordkaukasus zu erlangen. Die „Krasnaja Poljana“, die durch die Olympischen Spiele 2014 in Russland bekannt wurden, übersetzen die Russen als „Schöne Felder“, die Tscherkessen aber als „Rote Felder“. „Russische Soldaten schlachteten hier Frauen und Kinder ab“, erzählt Sakina Schweers, „die Flüsse waren rot gefärbt.“ Die Erinnerung treibt ihr die Tränen in die Augen. „Das ist mein historisches Gedächtnis“, sagt sie.
Die Tscherkessen bewahrten ihre Kultur und Sprache über viele Generationen. Sie lernen über die Geschichte des Landes aus ausländischer Literatur. In Russland existiert nichts mehr davon.
„Als ich kam, gab es keine DDR mehr.“
Nach Deutschland ist Sakina Schweers 1989 als Doktorandin gekommen, um das Thema der kleinen und mittelständischen Betriebe zu erforschen, die in den planwirtschaftlichen System keinen Platz fanden. Aber: „Als ich nach Leipzig kam, gab es keine DDR mehr.“ Schweers lernte ihren Ehemann kennen, der aus dem Münsterland stammt. „Und so bin ich in Deutschland geblieben.“
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Eine enge Verbindung spürt sie nach wie vor zu ihrer Großmutter. Sie hieß Sharifa Achmat und stammte aus einer fürstlichen Familie. „Sie war eine großartige und gütige Frau“, erinnert sich Sakina Schweers. Sharifa hat viele Verluste erleiden müssen. Ihr Ehemann wurde mit der Revolution 1922 als Volksfeind nach Sibirien geschickt. Von ihm gab es keine Nachricht mehr. Ihr eigenes Leben konnte die Großmutter nur retten, indem sie all ihre Bediensteten versteckte.
Die anschließende Hungersnot raffte auch ihre Tochter dahin. Der Sohn verscholl im Zweiten Weltkrieg. Nur ein Sohn blieb ihr, Sakinas Vater. Aber auch dessen Schicksal war erst ungewiss. Mit 18 Jahren war er zum Militärdienst geschickt worden und dann direkt im Zweiten Weltkrieg an die Front. Dort nahmen ihn die Deutschen gefangen.
Als Gefangener galt er den Sowjets als Verräter
Somit galt er den Sowjets als „Verräter“, denn sie verlangten von ihren Soldaten, sich zu erschießen, sobald sie in Gefangenschaft gerieten. Das Ende des Krieges erlebte er als deutscher Gefangener in der Normandie. Ein Angebot der Alliierten, in die USA auszuwandern, schlug der Vater jedoch aus, hatte er doch seine Mutter schon sehr lange nicht mehr gesehen. Die Folge: „Die Russen schickten ihn nach Sibirien“, erzählt Sakina Schweers. Von 1945 bis 1953 schuftete er im Gulag.
Erst als Stalin starb, kehrte der Vater 36-jährig zurück. Ganze 18 Jahre hatte er seine Mutter nicht gesehen. Er heiratete und bekam drei Kinder. „Meine Großmutter war die glücklichste Frau“, erinnert sich Sakina Schweers. Die Frau, die in ihrem Leben alles gehabt und dann verloren hatte, pflegte zu sagen: „Nichts zu haben und daraus etwas zu machen, das ist Kunst.“
Auch heute noch betrachtet Sakina Schweers jeden Tag das Körbchen von Sharifa und denkt an sie. Und zu besonderen Anlässen stellt sie Blumen hinein.