Sie kommen nach dem Crash: Unterwegs mit den Unfall-Detektiven

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Mit einem Messrad gehen die Fahrzeugtechnikstudenten Sarah und Thomas die Unfallstrecke in Emmering ab, auch das Auto, das gegen die Kapelle gefahren war, haben sie penibel ausgemessen und abfotografiert. © Rossmann

Die Unfallforscher des Projekts GIDAS vermessen Unfallstellen in der Region und befragen Beteiligte. So sammeln sie Teile für ein gigantisches Daten-Puzzle, das den Straßenverkehr in Deutschland sicherer machen soll.

Landkreis – Im Rücken Jesu Christi ist ein Auto eingeschlagen. Der BMW hat die angefrorene Erde und den frischen Schnee zerwühlt, Lackspuren und Furchen in den Putz der Kapellenrückwand gefräst, bevor er zwischen zwei Bäumen und dem Gotteshäuserl zum Stehen kam. Die Fahrerin ist leicht verletzt. Die Holzfigur des Messias in Ketten, wohl abgebildet in einer Kreuzweg-Szene, hat es unbeschadet überstanden. Als Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst abgerückt sind, und das zerknautschte Auto auf der Pritsche eines Transporters davonfährt, bleiben zwei Menschen in leuchtgelber Montur an der Unfallstelle zurück.

Das Unfallauto wird abtransportiert: Zuvor sind Schäden, Splitter und Bremsspuren dokumentiert worden.
Das Unfallauto wird abtransportiert: Zuvor sind Schäden, Splitter und Bremsspuren dokumentiert worden. © Rossmann

Der Schriftzug „Unfallforschung“ prangt auf ihrem Rücken. Mit einem Messrad gehen Sarah und Thomas die Unfallstrecke ab, auch das Auto haben sie penibel ausgemessen und abfotografiert: Schäden, Splitter, Bremsspuren, Endlage. Dazu dokumentieren sie die Witterung und alles, was die letzten paar Sekunden vor dem Crash eine Rolle gespielt haben könnte. „Wir sind die Techniker“, sagt die 25-Jährige. Bewaffnet mit Messlatten, Aktenordnern, Digitalkamera. Ihr Kollege, 23, ergänzt: „Wichtig ist, dass wir möglichst viele Daten am Unfallort sammeln.“

Studenten sammeln winzige Teile eines gigantischen Puzzles

Die zwei Fahrzeugtechnik-Studierenden von der Hochschule München, die sich an dem Wintermorgen hinter der Kapelle bei Emmering die klammen Finger reiben, sammeln winzige Teile eines gigantischen Puzzles: Für das Unfallforschungsprojekt GIDAS eilen sie bei Wind und Wetter zu Unfallstellen in der ganzen Region, informiert durch die zuständigen Rettungsleitstellen. Von ihrem Stützpunkt in Neubiberg (Landkreis München) aus decken sie den gesamten Landkreis Ebersberg ab, dazu Teile der Kreise Freising, Erding, München, Rosenheim, Miesbach, Bad Tölz-Wolfratshausen und Mühldorf.

GIDAS steht für „German In-Depth Accident Study“ (sinngemäß: vertiefte Verkehrsunfallforschung in Deutschland), eine Kooperation der Bundesanstalt für Straßenwesen mit der Forschungsvereinigung Automobiltechnik, zu der Hochschulen und mehrere Autohersteller gehören. Neu ist, dass es neben den zwei bestehenden Standorten, Hannover und Dresden, den bundesweit dritten bei München gibt. Mit dabei ist auch Uniklinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU).

Projekt ist „absolutes Alleinstellungsmerkmal“ für Deutschland

Der dortige Lehrstuhlinhaber für Unfallchirurgie, Wolfgang Böcker (56), sagt: „GIDAS hat immense Dinge geleistet“ und nennt das Projekt ein „absolutes Alleinstellungsmerkmal“ für Deutschland in der weltweiten Unfallforschung. Ob es um effizientere Vorgaben für Notarztalarmierungen geht, steifere B-Säulen für Fahrzeuge oder den richtigen Aufstellort für Leitplanken: GIDAS soll die wissenschaftlichen Schützenhilfe liefern, damit es weniger Tote im Verkehr gibt.

Deswegen bibbert das Studentenduo an diesem Januartag stundenlang an der Kapelle im Schnee. „Wir müssen schnell genug sein“, sagt Sarah über die Anfahrt aus Neubiberg. Denn natürlich warten die Retter nicht auf die Unfallanalytiker, bevor sie Verletzte versorgen oder Straßen freimachen. Dankbar sind die Forscher aber für etwas Unterstützung vor Ort, etwa das Ausleuchten einer abendlichen Unfallstelle durch die Feuerwehr. Und wenn Unfallopfer ihnen nachträglich, sobald es ihnen besser geht, etwas über den Unfallhergang erzählen. Freiwillig und unter striktem Datenschutz, versteht sich.

Wolfgang Böcker, Lehrstuhlinhaber für Unfallchirurgie.
Wolfgang Böcker, Lehrstuhlinhaber für Unfallchirurgie. © Privat

Die Polizei wird nach dem Unfall berichten, dass die 39-jährige BMW-Fahrerin offenbar etwas zu weit nach rechts gekommen war, die winterlichen Verhältnisse hätten ihr Übriges getan. Glücklicherweise streifte sie die Jesus-Kapelle nur, statt sie frontal zu erwischen. Wenn sie hoffentlich bald wieder gesund ist, und das Auto repariert oder ersetzt, ist die Kollision schon in die Statistik eingegangen – als einer von geplant 500 durch das Neubiberger Team erfassten Unfällen mit Personenschäden

Insgesamt will GIDAS deutschlandweit auf 2000 erfasste Unfälle im Jahr kommen. Warum so viele, erklärt Steffen Peldschus (47), Professor für Biomechanik und Unfallforschung an der LMU: „Je größer die Zahlengrundlage, desto valider die Aussage, die man treffen kann.“ Ein wichtiges Forschungsfeld sei zurzeit Wohl und Wehe der Automatisierung, vom Spurhalteassistenten bis zum selbstfahrenden Auto.

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Einen Großteil der Arbeit mache die Auswertung aus. Der Blick auf das große Ganze, aber auch die Details einzelner Unfall- und Verletzungssituationen. „Dafür muss man vor Ort sein“, sagt der Professor. Die Studenten der Arbeitsgemeinschaft aus Hochschule, LMU und Uniklinik frieren also, um auf lange Sicht Leben zu retten.

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