Das „Dilemma“ Israels – hat sich Netanjahu im Gaza-Krieg verrannt?
Übersteht Netanjahu den Israel-Gaza-Krieg? Die Koalition fordert eine harte Kriegsführung und die Bevölkerung die Befreiung der Geiseln – und sogar die USA wenden sich ab.
Jerusalem – „Wir haben drei Kriegsziele.“ Das sagte Benjamin Netanjahu Anfang des Jahres gegenüber dem Wall Street Journal. Im Gazastreifen gehe es darum, die Hamas zu vernichten, die israelischen Geiseln zu befreien und dafür zu sorgen, „dass Gaza nie wieder eine Bedrohung für Israel darstellt“, so der israelische Ministerpräsident. Auch heute haben sich diese Ziele nicht geändert. Doch seine Kompromisslosigkeit könnte dem Regierungschef zum Verhängnis werden, wie Nahostexperte Dr. Andreas Böhm gegenüber IPPEN.MEDIA feststellte.
Der Krieg in Gaza ist geprägt vom Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung. Mit den jüngst gestarteten Angriffen auf die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens, hat sich diese Situation nur verschärft. Das UN-Nothilfebüro (OCHA) warnte zuletzt davor, dass eine israelische Militäroperation in Rafah zu einem „Blutbad“ führen könne und die „humanitäre Arbeit im gesamten Gazastreifen lähmen könnte“. Dass Israel seine Kriegsziele erreicht und damit ein Ende der Kampfhandlung eintritt, werde außerdem noch „viele Monate dauern“, so Netanjahu selbst. Und damit wird sich die humanitäre Lage im Gazastreifen weiter verschärfen.
USA erhöhen Druck auf Netanjahu – Biden „will eine Feuerpause sehen“
Selbst Joe Biden wolle aufgrund der Situation der Bevölkerung im Gazastreifen eine „Feuerpause sehen“. Und das für „einen Zeitraum über sechs Wochen“. Das sagte der Präsident im Interview mit dem US-Sender MSNBC. Droht die Stimmung zwischen den USA und Israel zu kippen? Darauf könnte auch Bidens Drohung, Waffenlieferungen an Israel zu stoppen, hindeuten. Einen Einsatz US-amerikanischer Bomben in Rafah lehne der Präsident ab.

Vor allem eine umfassende Bodenoffensive in Rafah könnte das Verhältnis zwischen Israel und den USA tief erschüttern. „Für Präsident Biden stellt dies eine rote Linie dar“, so Böhm gegenüber IPPEN.MEDIA. Und das setze den Ministerpräsidenten unter gehörigen Druck. „Seine rechtsextremen Koalitionspartner drohen, ihn im Stich zu lassen, wenn er nicht eine umfassende Operation in Rafah anordnet“, sagt Böhm.
„Netanjahu spielt auf Zeit“ – Israel muss sich im Krieg in Gaza entscheiden
Aber nicht nur auf politischer Ebene steigt der Druck auf Netanjahu. Auch die „Familien der Geiseln“ fordern endlich eine Befreiung der von der Hamas am 7. Oktober 2023 verschleppten israelischen Bürgerinnen und Bürger, erklärte Böhm. „Von Anfang an war klar, dass die beiden Ziele, die Geiseln zu befreien und die Hamas zu vernichten, unvereinbar sind“, fährt er fort. Netanjahu muss sich also entscheiden.
„Netanjahu spielt auf Zeit“, erklärt Böhm. „Bald wird er sich zwischen den Interessen seiner Koalition und denen seiner amerikanischen Partner entscheiden müssen.“ Denn für die einen ist eine Abkehr von der laufenden Rafah-Offensive genauso unvertretbar wie es eine Eskalation der humanitären Lage für die USA ist. Damit befindet sich Netanjahu in einem „Dilemma“, so Böhm. Egal für welche Option er sich entscheidet, er wird einen mächtigen Partner verlieren.
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Unzufriedenheit in Israel wächst – muss Netanjahu bald zurücktreten?
Damit verliert er vielleicht auch seinen Posten als Ministerpräsident. Als Netanjahu Anfang April israelische Truppen aus dem Süden des Gazastreifens zurückziehen ließ, wurden sogleich Drohungen aus der Koalition laut, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete. Itamar Ben-Gvir, Polizeiminister und Mitglied der rechtsextremen Partei Otzman Jehudit, drohte auf X (ehemals Twitter) offen mit einem Koalitionsbruch: „Wenn der Ministerpräsident entscheiden sollte, den Krieg zu beenden, ohne einen breiten Angriff auf Rafah, um die Hamas entscheidend zu schlagen, wird er kein Mandat haben, weiter als Regierungschef zu amtieren.“
Auch in der Bevölkerung regt sich Widerstand gegen Netanjahu – vor allem aufgrund der ungelösten Geisel-Situation. Anfang November letzten Jahres kam es sogar zu Protesten vor dem Haus des Premiers. Hunderte Menschen forderten dabei seinen Rücktritt.
Der Prognose, dass Netanjahu sich auf absehbare Zeit nicht als Staatschef werde halten können, schlossen sich die USA ebenfalls an. In einer jährlichen Bedrohungsanalyse hatten die USA beschrieben, dass die Bevölkerung das Vertrauen in Netanjahu verliere. Wie der Tagesspiegel berichtete, rechne man deshalb mit einem Rücktritt Netanjahus und anschließenden Neuwahlen. Eine Aussage, die im Knesset nicht gut ankam. (nhi)