„Wurde uns ein Stück Kindheit geraubt“: Betroffener schildert Aufwachsen mit alkoholkranker Mutter
Kinder suchtkranker Eltern haben ein hohes Risiko, später selbst suchtkrank zu werden. Eine bundesweite Aktion mach darauf nun aufmerksam. Hier erzählt ein Betroffener.
Freising - Fast jedes sechste Kind in Deutschland kommt aus einer Suchtfamilie. Kinder suchtkranker Eltern sind die größte bekannte Sucht-Risikogruppe. Schätzungsweise 2,65 Millionen Kinder haben alkoholkranke Eltern, 40.000 bis 60.000 Kinder haben Eltern, die von illegalen Suchtmitteln abhängig sind. Ihr Risiko, als Erwachsene selbst suchtkrank zu werden, ist im Vergleich zu Kindern aus nichtsüchtigen Familien bis zu sechsfach erhöht. Etwa ein Drittel dieser Kinder wird im Erwachsenenalter alkohol-, drogen- oder medikamentenabhängig. Ein Drittel entwickelt psychische oder soziale Störungen.
Darauf macht die bundesweite Aktionswoche, die vom 16. bis zum 22. Februar stattfindet, aufmerksam und will den vergessenen Kindern eine laute Stimme geben. „Denn diesmal drehen wir auf!“ – ist ihre Devise. #ICHWERDELAUT – das ist in diesem Jahr ihr Hashtag.
Aus diesem Anlass sprach Beatrice Brinninger, systemische Therapeutin und Mitarbeiterin der Prop-Suchtberatungsstelle in Freising mit dem Betroffenen Luca S. (Name geändert), der 24 Jahre alt ist und zusammen mit seiner Frau und seinen zwei Kindern (4 und 2 Jahre) in Freising lebt.
Herr S., Sie selbst sind mit einem suchtkranken Elternteil aufgewachsen. Wie haben Sie das als Kind wahrgenommen?
Meine Mutter war alkoholkrank, ich habe es erst gar nicht wahrgenommen. Mit zirka acht Jahren hat es angefangen. Da hat sie angefangen, abends im Bett zu trinken und hat es versteckt. Es wurde immer mehr, sodass sie dann auch teilweise von der Arbeit zu Hause geblieben ist. Erst ab einem Alter von elf Jahren habe ich so richtige Erinnerungen, dass da was ist, konnte es aber nicht richtig einordnen. Mit zwölf habe ich gemerkt, dass etwas „anders“ ist, als sie zu Hause rumtorkelte.

Was hat das für die Familie bedeutet?
Im Nachhinein kann ich sagen, dass schon immer eine angespannte Stimmung da war, kein schönes Miteinander. Meine Eltern waren immer beide sehr auf ihre Karriere fixiert. Es musste immer mehr und immer weiter sein. Meine Mama hat dann noch zusätzlich ein Abendstudium gemacht und wollte wohl ihre Kindheit damit ausgleichen.
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Kennen Sie Fragen wie: „Bin ich schuld, dass meine Mutter zu viel trinkt?“...
Nein, die kenne ich nicht. Ich hatte es immer so eingeordnet, dass alles begann, als meine Großmutter einen Schlaganfall hatte und das meine Mutter so getroffen hat. Mein Opa, der Vater meiner Mutter, war selbst Alkoholiker und ist an den Folgen gestorben. Ihn kannte ich nicht so gut.
...oder: „Ist meiner Mutter der Alkohol wichtiger als ich?“
Ja, ganz klar. Da kann ich mich auch ganz gut an mehrere Situationen erinnern. Sie sollte mich von einem Baseballspiel zum anderen fahren und hat es nicht geschafft, in diesen zwei Stunden für mich nüchtern zu bleiben. Ja, gefahren hat sie mich trotzdem. Ein anderes Mal waren wir an meinem Geburtstag in der Erdinger Therme. Sie wollte zu Hause das Essen herrichten, sobald wir zurück sind. Das Essen hat sie dann letztlich total verdorben. Generell wurden es immer mehr Weinflaschen, die überall im Haus waren. Auch ist mal fast das Zimmer abgebrannt. Als wir von der Schule heimkamen, haben die Nachbarn bemerkt, dass es aus dem Gästezimmer unter dem Dach ziemlich raucht. Sie hatte wohl ein Feuer entfacht, hatte sich jedoch selbst im Keller mit einer Weinflasche im Schrank versteckt und ist eingeschlafen. Das war der Punkt, als sich meine Eltern getrennt hatten, meine Mutter ist ausgezogen. Mein Vater, mein Bruder, der drei Jahre älter ist, und ich lebten von da an zusammen. Da war ich auch in etwa zwölf Jahre alt. Es ging alles sehr schnell dann. Erst hatte sie noch eine Wohnung in der Nähe, dann ist sie Richtung Norden gezogen.
Was hätten Sie sich als Kind gewünscht oder wünschen Sie sich jetzt?
Als Kind hatte ich das damals alles ganz gut aufgefasst. Erst jetzt im Nachhinein, wo ich selbst Kinder habe, habe ich gemerkt, wie gekränkt ich bin. Mein Papa hätte uns einfach nicht so einspannen sollen und uns die ganze Verantwortung übergeben, dass wir die Mama abhalten sollen, dass sie nichts zu trinken kauft. Es wurde uns so ein Stück Kindheit geraubt.
Das alles wurde aber erst so richtig deutlich sichtbar, als ich schließlich selbst Vater geworden bin. Meine Kinder haben noch einmal ganz viel von meinen damaligen Erlebnissen losgelöst und ich hatte danach eine lange Aufarbeitungsphase. Ich hatte „hohe Ansprüche“ an sie und musste selbst erst lernen, meinen Kindern mehr Freiheiten zu geben.
Was war für Sie im Nachhinein eine wichtige Erkenntnis, die heute noch von Bedeutung ist – also Ihr Benefit aus der ganzen Geschichte, wenn man das so nennen kann?
Ich habe gelernt, mich von Leuten zu distanzieren, die mir nicht guttun. Es ist wichtig, Liebe und Zuneigung zu erarbeiten. Den Kontakt zu meiner Mutter habe ich vor einem Jahr abgebrochen. Der raubt mir zu viel Kraft. Die Gespräche wiederholen sich, sie ist immer wieder in einer Spirale von Klinikaufenthalten und ich kann nicht mehr damit umgehen.
Was hilft Ihnen heute, damit umzugehen?
Meine Familie und ich haben vor zwei Jahren eine Traumatherapie gemacht. Da habe ich einen Brief an meine Mutter geschrieben, den ich nie abgeschickt habe. Aber dieser hat viel bewirkt.
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Gut zu wissen
Um sowohl den Kindern als auch Menschen mit einer Suchtproblematik eine Perspektive und Anlaufstellen zu bieten, schafft der im Herbst 2017 ins Leben gerufene Fachkreis „Schulterschluss“ Strukturen, mit denen Betroffene aufgefangen und gefördert werden können. „Wir betreuen – ebenso wie die Jugendhilfe – genügend suchtkranke Menschen, die Kinder haben“, so Beatrice Brinninger. Der Fachkreis Freising versucht ganz konkrete Hilfestellungen zu installieren und eine Haltungsänderung auf verschiedenen Ebenen zu erreichen. Um diesen Menschen schnell zu helfen, können Termine telefonisch vereinbart werden oder das Angebot der offenen Sprechstunde genutzt werden (mittwochs 16 Uhr). Es gibt auch eine Jugendsprechstunde.