Medikamenten-Mangel lähmt Deutschland – Experte warnt: „Noch nie so schlecht ins neue Jahr gestartet“
In Deutschland sind viele Arzneimittel knapp – darunter auch wichtige Krebs- oder Asthma-Medikamente. Der Apothekenverband Nordrhein warnt eindringlich: „Eine solche Situation gab es noch nie.“
Berlin – Deutschland ächzt derzeit unter einer Erkältungs- und Grippewelle: Tausende Menschen waren und sind laut Zahlen des Robert-Koch-Instituts von den lästigen Infekten betroffen. Doch anders als die Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Asthma lässt sich Schnupfen, Husten und Fieber in der Regel in rund eineinhalb Wochen auskurieren. Das gilt für die drei erstgenannten nicht. Krebspatienten oder Diabetiker sind zwingend auf Medikamente angewiesen – und genau die fehlen derzeit vielerorts in Deutschland.
Apothekenverband Nordrhein warnt vor Medikamenten-Engpass: „Eine solche Situation gab es noch nie“
Thomas Preis, Chef des Apothekerverbands Nordrhein, warnte gegenüber der Rheinischen Post davor, dass für sieben Wirkstoffe nach wie vor ein bedenklicher Versorgungsmangel herrsche. Betroffen seien demnach Medikamente wie Kochsalzlösungen, Antibiotika-Säfte für Kinder, Salbutamol zum Inhalieren bei Asthma und Folinsäure, die bei Krebstherapien zum Einsatz kommt: „Eine solche Situation gab es noch nie. So schlecht sind wir noch nie in ein neues Jahr gestartet.“ Die Definition des Versorgungsmangels werde laut Preis nur festgestellt, wenn die Behörden die Versorgung der betroffenen Patienten als „sehr kritisch“ einschätzen. Und das nehme von Jahr zu Jahr zu.
Das bestätigen auch die offiziellen Bundesbehörden: Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sind aktuell tatsächlich die Wirkstoffe Fosfomycin, Diamorphin, Natriumchlorid, Natriumperchlorat, antibiotikahaltige Säfte für Kinder, Salbutamol und Folinsäure von einem Versorgungsengpass betroffen.

Fatale Abhängigkeit von China und Indien? 60 bis 80 Prozent der Wirkstoffe stammen aus Fernost
Seit der Corona-Pandemie begleiteten derartige Notlagen das deutsche Gesundheitssystem – spätestens. Dabei sind die Gründe für Versorgungsengpässe vielfältig und in den vergangenen Jahren angewachsen. Viele deutsche Pharmazieunternehmen haben ihre Produktionslizenzen aufgrund zu hoher Kosten entweder auslaufen lassen oder ins Ausland verlegt. Auch stammen in europäischen Produktionen rund 60 bis 80 Prozent der pharmazeutischen Wirkstoffe aus China oder Indien, wie die von der EU-Kommission ins Leben gerufene Allianz Critical Medicines Alliances (CMA) herausfand. Auch Dauerbrenner-Wirkstoffe wie Paracetamol oder Metamizol sowie weitere Medikamente für Herzversagen, Zirrhose, Bluthochdruck und Nierenerkrankungen werden zunehmend von indischen oder chinesischen Pharmaziewerken hergestellt. In China liege der Preis für Arzneiwirkstoffe rund 40 Prozent unter jenem in Europa.
Laut Recherchen der Deutschen Welle bekamen Hersteller 2022 von den Krankenkassen für eine Flasche Paracetamol-Fiebersaft 1,36 Euro – der Preis habe sich seit zehn Jahren nicht verändert, die Produktionskosten und die Wirkstoffbeschaffung seien im selben Zeitraum dagegen um 70 Prozent gestiegen. Für die europäischen Unternehmen ein Verlustgeschäft. Der französische Pharmakonzern Euroapi schloss wegen dieses Preisdrucks unlängst zwei Standorte in Europa. Zudem kündigten die Franzosen an, die Produktion von 13 pharmazeutischen Wirkstoffen aus Europa abzuziehen. Besonders betroffen sind Unternehmen, die so genannte Generika herstellen. Die patentlosen Arzneimittel stellen rund 80 Prozent des deutschen Marktes – darunter sind Fiebersäfte aber auch Krebsmittel.
Von der Leyen erklärt Versorgungsmangel von Medikamenten zur Chefsache – Fördergelder für EU-Firmen
Laut Andre Ridder, Werksleiter des tschechischen Großherstellers Zentiva, finden 40 Millionen Packungen aus seiner Fabrik jährlich den Weg in Deutschlands Arzneimittelschränke. Die Gewinnmarge für das Unternehmen ist hingegen verschwindend gering – „es bleiben uns nur wenige Cent“, erklärt Ridder gegenüber der Welt. Ähnlich geht es auch Herstellern in Deutschland.
Meine news
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte kurz nach ihrer Wiederwahl im Juli, dass sie gegen diesen Trend vorgehen werde. Die Europäische Arzneimittelagentur hat daraufhin eine Liste mit 200 kritischen Wirkstoffen vorgelegt. Zudem soll der Critical Medicines Act, ein Gesetz über kritische Arzneimittel, folgen und langfristig für sicherere Lieferketten sorgen. Europäische Wettbewerber wie Euroapi könnten im Rahmen von neuen EU-Programmen zusätzlich Fördergelder erhalten, um den Kostendruck gegenüber der billigeren Konkurrenz aus China oder Indien zu bestehen. Auch Deutschlands Gesundheitsminister Karl Lauterbach hatte 2023 ein Gesetzespaket zur Bekämpfung der Medikamentenknappheit verabschiedet. So müsse seitdem jeder Hersteller, der Deutschland mit Generika versorge, einen Lagerbestand vorweisen, der Lieferungen von bis zu sechs Monaten gewährleiste. „Es ist jetzt so, dass ein Prozent der Arzneimittel fehlen. Die meisten dieser Arzneimittel können ersetzt werden durch andere Präparate“, sagte Lauterbach im Oktober gegenüber ZDFheute.
Lauterbach kritisiert Vorgängerregierung – und plant Frühwarnsystem für die Lieferkettensicherung
Die langfristige Versorgungssicherheit dauere allerdings noch Jahre, was auch an der laschen Planung der Vorgängerregierung gelegen habe. Konkret sprach er den Namen des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU) nicht aus. Doch Lauterbachs Kritik zielt wohl speziell auf Spahn ab, der im Zuge der Corona-Pandemie, als aufgrund von Lockdowns in China neben Medikamenten auch weitere medizinische Produkte wie etwa FFP2-Masken knapp wurden, nicht die richtigen Schlüsse gezogen hatte.
In einer weiteren Maßnahme von Lauterbach sollen sich Unternehmen aus China oder Indien dazu verpflichten, die Hälfte der Medikamente in Europa herzustellen. Allerdings müsse dafür erst noch eine sichere Infrastruktur entstehen. Wie sich diese bei den europäischen Preismargen für Arzneimittel finanzieren lasse, ist hingegen ebenso offen, kritisieren Branchenvertreter. Aktuell arbeitet der Bund zudem an einem Frühwarnsystem, das bereits früh etwaige Störungen in der Lieferkette erkennen könnte. Dafür soll ein umfassendes Monitoringsystem alle Produktionsschritte überwachen. In welchem Umfang – etwa nur EU- oder sogar weltweit – dieses mit Unterstützung von Künstlicher Intelligenz zum Einsatz kommt, ist noch unklar. Ebenso wie der Zeitpunkt. Das Projekt des BfArM wird eher als langfristige Unternehmung angesehen. Das sieht auch Preis so und beklagt: „Die Maßnahmen der Ampel haben nahezu keine Wirkung gehabt.“