Ihr Körper greift sich selbst an - Morgens gesund, abends gelähmt: Leah (23) hat „Krankheit der vielen Gesichter“

Stellen Sie sich vor, Sie stehen morgens auf, alles ist gut, Sie gehen zur Arbeit, ein ganz normaler Tag. Am nächsten Tag wachen Sie mit einem leichten Kribbeln in der linken Hand auf. Mehr nicht. Sie gehen wie gewohnt Ihrem Tag nach. Am Abend hat sich das Kribbeln ausgebreitet, hinzu kommt ein Taubheitsgefühl im linken Bein. Sie haben Schwierigkeiten beim Sprechen. Ihr Körper gehorcht Ihnen nicht mehr. Sie landen im Krankenhaus, im Rollstuhl.

So hat es Leah Mansour erlebt. Ein leichtes Kribbeln in der Hand ist für die meisten kein Grund zur Sorge. Bei ihr löste es lange Zeit Panik aus. Denn die vermeintlich harmlose Missempfindung kann in ihrem Fall ein schrecklicher Vorbote sein. „Wenn ich morgens aufwache und meine Hand kribbelt, kann es passieren, dass ich abends schon nicht mehr laufen kann. Und für mehrere Wochen ins Krankenhaus muss.“

Multiple Sklerose ist die „Krankheit der vielen Gesichter“

Die 23-Jährige leidet an Multipler Sklerose, kurz MS. Eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, die Gehirn und Rückenmark betrifft. Die Krankheit tritt in den meisten Fällen in Schüben auf. Während eines Schubs können Betroffene an Taubheitsgefühlen leiden, einem schlechten Gleichgewichtssinn, Seh- oder Sprachstörungen, starken Muskelkrämpfen, Erschöpfung.

Wie häufig, wie lange und intensiv ein Schub ist, kann niemand vorhersagen. MS wird daher auch „die Krankheit der vielen Gesichter“ genannt. Weltweit sind mehr als 2,8 Millionen Menschen davon betroffen. In Deutschland sind es rund 250.000, darunter deutlich mehr Frauen als Männer. Die meisten erhalten die Diagnose zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr.

MS-Diagnose in der Grundschulzeit

Bei Leah Mansour zeigt sich MS ungewöhnlich früh, im Alter von zehn Jahren. Im Gespräch mit FOCUS online erinnert sie sich zurück an die ersten Symptome: „Im Unterricht habe ich beim Schreiben ein Kribbeln im Rücken gespürt. Ich habe mir damals nichts dabei gedacht. Dann ging es relativ schnell bergab. Innerhalb kürzester Zeit wurden meine Finger taub, mein Bein, mein Gesicht. Es hat überall gekribbelt. Ich konnte schlecht laufen, habe das eine Bein ständig hinterhergezogen.“

Zunächst steht der Verdacht auf einen Zeckenbiss im Raum. Eine Woche später bringt eine Lumbalpunktion Gewissheit. Dabei entnehmen Ärzte mit einer Nadel Nervenwasser nahe am Rückenmark. „Ich erinnere mich gut daran, dass ich ziemlich Angst hatte. Die große Nadel. Der sterile Raum. So viele Ärzte um mich herum. Meine Eltern mussten den Raum verlassen.“

Im Anschluss die Diagnose: Es ist Multiple Sklerose. Eine unheilbare Krankheit. Für Leah Mansour beginnt die lange Suche nach dem passenden Medikament. Das Kind, das vorher kerngesund war, nie im Krankenhaus, verbringt nun so viel Zeit in Arztpraxen und Kliniken, dass an Schule nicht mehr zu denken ist.

„Musste mir oft anhören, ich sei naiv“

In den ersten Jahren nach der Diagnose bringt kein Medikament den gewünschten Effekt. Ganz im Gegenteil: Leah Mansour hat mit starken Nebenwirkungen zu kämpfen. Das erste Präparat spritzt sie sich alle zwei Tage unter die Haut. Doch es verhindert ihre Schübe nicht. Vom nächsten fängt sie sich ein gefährliches Virus ein. Eine weitere Therapie in Form von Tabletten sorgt für so schlechte Blutwerte, dass sie auch diese wieder einstellen muss.

„Ich habe immer zu mir selbst gesagt: Gib nicht auf, es werden bessere Zeiten kommen", erzählt Mansour. "Dabei musste ich mir ganz oft anhören, ich sei naiv, weil ich so eine Einstellung habe. Aber man ist stärker als man denkt. Natürlich gibt es scheiß Phasen. Aber man wächst über sich hinaus.“

Das sechste Medikament schlägt endlich an. Im Januar 2022. Zu diesem Zeitpunkt lebt Leah Mansour bereits elf Jahre mit der Krankheit.

„Das war eine lange Suche nach dem richtigen Medikament. Das Durchhaltevermögen und die Disziplin von Frau Mansour sind bewundernswert“, kommentiert Markus Krämer. Der Leitende Oberarzt an der Klinik für Neurologie am Alfried Krupp Krankenhaus in Rüttenscheid behandelt Leah Mansour seit 2020. Durch Rückschläge habe sich seine Patientin nie entmutigen lassen, sagt er anerkennend.