Multiple Sklerose - Neurologe erklärt, warum MS bei Kindern schwerer verläuft als bei Erwachsenen
Die Diagnose Multiple Sklerose (MS) bei Kindern wirft viele Fragen auf. Neurologe & Psychiater Mimoun Azizi führt durch die komplexe Welt dieser seltenen, aber ernsten Erkrankung.
Wie häufig tritt Multiple Sklerose (MS) bei Kindern auf?
Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung, bei der die Entstehung und das Auftreten der Symptome und die Diagnose lange Zeit hauptsächlich mit dem Altersabschnitt zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr in Verbindung gebracht wurde. Im Laufe der Jahre hat sich jedoch herausgestellt, dass diese Krankheit nicht nur im frühen bis mittleren Erwachsenenalter, sondern auch bei Kindern auftreten kann - wenn auch deutlich seltener.
Die Prävalenz von MS im Kindes- und Jugendalter liegt bei 1-3 Fällen pro 100.000 Menschen, was sie zu einer der seltenen Krankheiten macht. Trotz ihrer Seltenheit darf die Möglichkeit einer MS-Erkrankung bei Kindern nicht übersehen werden. Multiple Sklerose kann bei dieser Altersgruppe nämlich genauso schwerwiegend sein wie bei Erwachsenen.
Über Mimoun Azizi

Der Facharzt für Neurologie Dr. med. Mimoun Azizi, M.A., ist seit 2021 Chefarzt der Geriatrie/Neurogeriatrie am Allgemeinen Krankenhaus Celle. Darüber hinaus ist er Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und besitzt u.a. Zusatzqualifikationen in der Notfallmedizin, Geriatrie und Palliativmedizin. Der Autor verschiedener Fachbücher und -artikel besitzt zudem einen Magister der Politikwissenschaften und Soziologie sowie einen Master der Philosophie.
Ablauf der Diagnosestellung
Die Diagnosestellung erfolgt in der Regel durch eine Ausschlussdiagnostik. Hierbei werden zunächst andere mögliche infektiöse oder entzündliche Ursachen sowie Stoffwechselstörungen ausgeschlossen. Dieser Prozess erfolgt schrittweise, wobei alle anderen potenziellen Ursachen für die vorliegenden Symptome eliminiert werden. Sollten alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen sein, bleibt die Ausschlussdiagnose Multiple Sklerose (MS). Die Diagnoseverfahren umfassen sowohl eine kernspintomographische Untersuchung als auch eine Lumbalpunktion.
Bei Kindern basiert die Diagnose einer MS auf dem Nachweis einer zeitlichen und räumlichen Streuung von Entzündungsherden, ähnlich wie bei Erwachsenen. Die sogenannten McDonald-Kriterien, standardisierte Richtlinien zur Diagnosestellung bei MS, können auch im Kindesalter ohne Einschränkungen angewendet werden.
Die Ursachen für eine MS-Erkrankung im Kindesalter scheinen dieselben zu sein wie im Erwachsenenalter. In Bezug auf die Diagnostikkriterien gibt es keine Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen - die Kriterien, die erfüllt sein müssen, um von einer MS zu sprechen, sind in beiden Altersgruppen identisch.
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Wie unterscheidet sich der Verlauf der Krankheit bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen?
Die Krankheitsverläufe bei Kindern und Erwachsenen unterscheiden sich in einigen Aspekten. Lange Zeit ging man davon aus, dass Kinder sich besser von den Schüben erholen können als Erwachsene. Dies mag zwar auf die ersten Schübe zutreffen, sollte jedoch nicht mit einem generell besseren Verlauf verwechselt werden. Tatsächlich treten bei Kindern Schübe häufiger auf und führen zu einer raschen Zunahme der entzündlichen Hirnläsionen. Dies resultiert relativ früh in kognitiven Beeinträchtigungen wie Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Vergesslichkeit, Sprach- und Sprechstörungen sowie Schluckproblemen.
Im Unterschied zur Multiplen Sklerose bei Erwachsenen, ist bei Kindern eine bildmorphologisch darstellbare Hirnatrophie (Gehirnschwund) zu beobachten. Die Symptome, die Kinder zeigen, hängen dabei direkt mit dem Ort der Entzündung im zentralen Nervensystem (ZNS) zusammen. Bei Kindern sind häufig mehrere Hirnareale gleichzeitig betroffen, was zu einer Vielzahl von Symptomen führen kann.
Im Kindesalter ist die Anzahl der Läsionen größer als im Erwachsenenalter und sie sind insbesondere im Hirnstamm und Kleinhirn zu finden. Dies führt zu weiteren Symptomen wie Augenbewegungsstörungen, Doppelbildern, epileptischen Anfällen sowie psychiatrischen Verhaltensstörungen. Bei Entzündungen im Kleinhirn kommen zudem Gleichgewichtsstörungen und Schwindel hinzu.
Behandlungsmöglichkeiten für Kinder mit MS
MS ist eine nicht heilbare Krankheit, die eine lebenslange Therapie erfordert. Diese Therapie basiert auf immunmodulierenden und immunsuppressiven Behandlungen und erfordert eine enge medizinische Betreuung der Betroffenen. Ähnlich wie bei Erwachsenen unterscheidet man bei Kindern zwischen Schubtherapie und Langzeittherapie.
Die Schubtherapie zielt darauf ab, die Dauer und Intensität der Schübe zu reduzieren. Dies wird in der Regel durch eine hochdosierte Cortisonstoßtherapie erreicht. Wenn diese Therapie nicht ausreichend wirkt, kann auch eine Plasmapherese (Blutwäsche) als Behandlungsoption in Betracht gezogen werden.
Die Langzeittherapie verfolgt das primäre Ziel, Schübe zu verhindern. Sekundär wird versucht, neue Hirnläsionen zu verhindern und damit kognitive Einschränkungen zu vermeiden. Darüber hinaus soll einer Hirnatrophie vorgebeugt werden. Das übergeordnete Ziel dieser Behandlung besteht darin, eine Progression der Krankheit zu unterbinden.
Die Therapie muss immer individuell angepasst werden und berücksichtigt viele psychische, somatische und soziale Aspekte. Abhängig von der Aktivität der MS und der klinischen Manifestation gibt es zwei verschiedene Ansätze für die Therapie im Kindesalter: „Start slow and escalate“, wenn das erste Medikament nicht richtig wirkt, oder „Start strong, maintain remission“ bei hoher Krankheitsaktivität. In diesem Fall gilt das Prinzip „hit hard and early“.
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