Susanne liegt regungslos auf dem Rücken, sie ist bewegungslos. Sie bekommt Nahrung über den Schlauch in der Nase. Sie hat einen Katheter. Ihre Augenbälle sind übermäßig angeschwollen, ihre Lider schließen nicht.
Das schreibt die Mutter von Susanne Schlößer nach einem Besuch im Krankenhaus in ihr Tagebuch. Ihre Tochter liegt in einer Klinik in Nürnberg in einem komatösen Zustand. Sie hat FSME, ausgelöst vermutlich durch einen Zeckenbiss. Der Tagebucheintrag ist von 2017.
Heute ist Susanne Schlößer 63 Jahre alt. Bis auf die dicken Gläser ihrer Brille deutet rein optisch nichts mehr auf die Erkrankung hin. Doch das Zeckenvirus hat stark in ihrem Gehirn gewütet - mit Folgen, die Schlößer noch heute spürt. In einem Gespräch mit FOCUS online blickt sie zurück und verrät, wie sie sich aus dem tiefen Loch herausgekämpft hat - sowohl körperlich als auch seelisch.
FOCUS online: 2017 hat alles bei ihnen angefangen, möglicherweise mit einem Zeckenstich, den sie aber nie bemerkt haben. Was war das für eine Zeit in Ihrem Leben?
Susanne Schlößer: Ich war beruflich auf dem aufsteigenden Ast. Ich war mit einem Honorarvertrag bei der Uni beschäftigt und sehr stolz. Ich hatte in diesem Jahr besser verdient als die Jahre zuvor. Mitten in einem Höhenflug bin ich dann so krank geworden. Ich hatte plötzlich grippeähnliche Symptome: Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwäche. Ich habe nicht mehr gegessen und nicht mehr getrunken. So ging das ein paar Tage. Als Selbstständige gab es für mich keine Krankmeldung, ich dachte einfach, das wird schon wieder. Mein Umfeld war allerdings alarmiert. Meine Familie hat meinen Ex-Mann gerufen, der Arzt ist. Der hat mich direkt in die Klinik geschickt. Dass ich ins Krankenhaus eingeliefert wurde, habe ich schon nicht mehr bewusst mitbekommen.
Das wissen Sie nur noch aus Erzählungen?
Schlößer: Ja, ich war nicht mehr ansprechbar, habe nichts mehr mitbekommen, bin einfach nur rumgelegen. Die Viren hatten mein Gehirn schon blockiert. Ich hätte auch keine Entscheidung mehr treffen können. Mein Sohn hat mich zum Auto getragen.
Das war Ende Juli 2017. Was wurde Ihnen später von der ersten Zeit im Krankenhaus erzählt?
Schlößer: Ich lag nicht im Koma, aber mein Gehirn war wie ausgeschaltet. Zunächst wusste man nicht, was die Ursache war. In der Neurologie wurde schließlich eine Lumbalpunktion gemacht und dabei wurde das Zeckenvirus festgestellt. Man kann gegen so ein Virus eigentlich nichts machen, man kann nur die Folgeerscheinungen eingrenzen. Ich kam dann in die nächste Klinik. Es war klar, dass mein Zustand nicht lebensbedrohlich ist, dass es aber ewig dauern würde, bis es mir wieder halbwegs besser geht.
Was ist Ihre erste bewusste Erinnerung aus dem Krankenhaus?
Schlößer: Aus dem ersten Monat habe ich überhaupt keine Erinnerung. Meine erste bewusste Erinnerung: Ich dachte, die Tapeten seien bunt, habe überall Farbe gesehen. Ich dachte, die Pfleger seien russische Soldaten. Es gab einen Pfleger, der wohl einen russischen Akzent hatte. Das habe ich in Träumen verarbeitet. Noch dazu gingen meine Augenlider nicht auf, ich habe nichts gesehen. Ich habe mich in der Zeit komplett aufs Hören konzentriert und aufs Träumen, habe unglaubliche Ängste entwickelt. Meine Familie musste mir immer wieder bestätigen, dass alles in Ordnung ist.
Wie lange waren Sie insgesamt in der Klinik?
Schlößer: Drei Monate. Ich hatte wohl immer Besuch, es war immer jemand da. Meine Schwester kam zweimal die Woche von München nach Nürnberg. Meiner Mutter hatte sie zunächst gesagt, sie solle nicht kommen, weil sie verhindern wollte, dass sie mich so sah. Die hat später bitterlich geweint nach ihrem ersten Besuch. Ich sah schrecklich aus. Wenn Freunde kamen, die mich so gesehen haben, haben sie sich alle danach impfen lassen.
Hatten Sie je über eine Impfung gegen FSME nachgedacht?
Schlößer: Nein. Ich dachte, ich lebe in der Stadt, ich erkenne eine Zecke und kann sie auch entfernen. Aber in meinem Fall habe ich ja gar keine Zecke gesehen. Zudem kam hinzu, dass mein Virus in dieser Region eigentlich nicht vorkommt. Meine schwere Form kommt wirklich extrem selten vor. Eine Impfung hätte meine Genesung mit Sicherheit einfacher gemacht.
Wie sind Sie emotional damit umgegangen, dass Sie eine so seltene, extrem schwere Form von FSME getroffen hat?
Schlößer: In der Klinik war ich erstmal so sehr mit Überleben beschäftigt, dass ich mich mit anderen Gedanken nicht gequält habe. Ich habe erst mal alles getan, um wieder auf die Beine zu kommen, habe jede Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie genutzt. Die Verzweiflungsattacken kamen später. Nach der Klinik habe ich viel geweint. Ich saß im Rollstuhl, war immer noch halb blind. Irgendwann hat mal ein Arzt gesagt: ,Wenn man die Tränen in Energie umwandeln könnte, dann wäre schon viel erreicht.‘
Nochmal zurück zu Ihrer Zeit in der Klinik: Wie sahen die ersten Schritte aus?
Schlößer: Ich habe alle Therapien bekommen, die man sich vorstellen kann. Ich musste ja alles wieder ganz neu erlernen. Mein Hirn hatte alle Körperfunktionen außer Betrieb gesetzt. Ich konnte die Lippen nicht öffnen, nicht schlucken, nicht essen. Mein ganzes Kiefergelenk war blockiert, da konnte man nicht mal einen Strohhalm reinschieben. Ich bekam Nahrung über eine Nasensonde und machte Pipi über eine Kanüle. Ich bekam also Esstherapie. Dann wurden meine Augenlider hochgeklebt, damit sie sich nicht daran gewöhnten schlapp zu machen. Auch das war eine Form der Therapie. Es musste viel getropft und gesalbt werden, sobald die Augen offen waren, damit ich das überhaupt aushalten konnte.
Wie ist es Ihnen gelungen, motiviert zu bleiben, obwohl es nur in kleinen Schritten voranging?
Schlößer: Man muss erkennen, dass kleine Schritte auch schon Erfolge sind. Und eine ganz wichtige psychische Maßnahme, wenn man sich schlecht fühlt, ist Bindung. Ich habe mich mit allen verbunden, kannte alle Therapeuten beim Namen, habe mit allen Pflegern gescherzt. Über diese Bindung habe ich mich lebendig gefühlt.