„In Eile“: Russischer Tu-22-Bomber trifft falsches Ziel im Schwarzen Meer

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Peinlicher Fehler der „Fehlzündung“: Ziviler Frachter wäre fast Putins Terrorbomber zum Opfer gefallen. Möglicherweise gehen Russland die Raketen aus.

Odessa – „Es ist durchaus möglich, dass es zu diesem Vorfall kam, weil die Piloten das Gebiet sofort nach dem Start verlassen wollten, aus Angst, von einer ukrainischen Boden-Luft-Rakete angegriffen zu werden“, berichtet das britische Verteidigungsministerium laut dem Magazin Newsweek. Der Luftwaffe Wladimir Putins soll ein doppelter Fehler unterlaufen sein: erstens die versuchte Zerstörung eines falschen Ziels durch einen Tu-22-Bomber und zweitens der Fehlschuss einer ihrer Raketen. Ein peinliches Versagen der Kriegsmaschinerie Russlands gegenüber der Ukraine – ebenfalls in doppelter Hinsicht.

Wie Newsweek schreibt, sollen russische Piloten eines Überschallbombers vom Typ Tu-22M3 (Nato-Code: „Backfire“, zu Deutsch „Fehlzündung“) im Schwarzen Meer versehentlich einen Getreidefrachter getroffen haben, nachdem sie ihn „in Eile anvisiert“ hätten, wahrscheinlich beim Versuch, der ukrainischen Luftabwehr zu entgehen – so die Beobachtung ausländischer Nachrichtendienste. Tatsächlich ist die Ukraine im Raum des Schwarzen Meeres ein ernst zu nehmender Gegner der russischen Invasionsarmee.

Ein Tupolev Tu-22M3R-Bomber hat sein Fahrwerk ausgefahren und setzt zur Landung an.
Angst vor der ukrainischen Luftabwehr: „In Eile“ sollen jetzt Tu-22-Piloten einen Marschflugkörper auf einen Getreidefrachter im Schwarzen Meer abgefeuert haben; dieser hätte aber als Blindgänger geendet. Dennoch sieht die U.S. Navy diese Maschinen als reale Bedrohung für die kommenden Jahre. © IMAGO / Dreamstime / Artyom Anikeev

Bis zu drei Tu-22 verloren: Putin kann sich in seinem Reich nicht mehr sicher fühlen

Mitte April hatte das Magazin Forbes berichtet, die ukrainische Regierung behauptet habe, sie hätte einen Tupolew Tu-22M Backfire-Bomber der russischen Luftwaffe abgeschossen – das wäre der zweite oder dritte Verlust eines Schwenkflügelbombers dieses Typs seit der Ausweitung des Krieges von Russland auf die Ukraine im Februar 2022 – und der erste Verlust in der Luft, wie Forbes-Autor David Axe geschrieben hat. Russland dagegen hatte dementiert und den Absturz einem technischen Defekt ohne Feindeinwirkung zugeschrieben, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete.

„Wir verfügen über einen begrenzten Vorrat an Langstreckenraketen und werden ihn nicht in die Länge ziehen.“

Diktator Wladimir Putin kann sich mittlerweile in seinem eigenen Reich nicht mehr sicher fühlen: Bereits Ende Juli hatte die Ukraine der strategischen Bomberflotte Russlands enorm zugesetzt. Drohnen der Ukraine sollen fast 2.000 Kilometer in den Norden Russlands zurückgelegt und auf einem Flugplatz bei Nischni Nowgorodsowie einen strategischen TU-22M3-Bomber beschädigt haben; das berichtet die Ukrainska Prawda. Mit Bezug auf den britischen Geheimdienst sprach Reuters sogar davon, dass der Bomber „höchstwahrscheinlich zerstört“ worden sei.

Laut dem World-Air-Forces-Index verfügte Russland vor dem Ukraine-Krieg über insgesamt 58 Maschinen dieses Typs, in dem die Piloten im Cockpit nebeneinander sitzen. Er gilt in der Ukraine als Terrorbomber. Die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten sagen, dass Russland die Ukraine häufig mit Tu-22M3 bombardiert hat. Das Flugzeug, das die Ukraine Mitte des Jahres abgeschossen haben wollte, war laut dem Luftwaffenkommandeur des Landes mit Kh-22-Marschflugkörpern für Angriffe auf ukrainische Städte ausgestattet, wie Reuters berichtet.

Erbe des Kalten Krieges: USA fühlen sich von dem Bomber weiterhin direkt bedroht

Wofür die Sowjetunion unter ihrem Präsidenten Leonid Breschnew den Bomber einzusetzen gedachte, galt als eines der heftigst diskutierten Debatten-Themen US-amerikanischer Militärs während des Kalten Krieges. Die Maschine war angegeben mit einer Reichweite von etwas über 2.000 Kilometern, was lediglich für einen peripheren Angriff auf Nato-Gebiet gereicht hätte; die USA befürchteten aber eine Kapazität von mehr als 5.000 Kilometern, was das Land direkt bedroht hätte, wie die Federation of American Scientists (FAS) berichtet hat.

Der Flieger war auch essenzieller Bestandteil der während des Kalten Krieges hauptsächlich zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion geführten Strategic Arms Limitation Talks (zu Deutsch Gespräche zur Begrenzung strategischer Rüstung) – kurz SALT. Zu der Zeit soll die Sowjetunion mehr als 100 Flugzeuge dieses Typs in verschiedenen Variationen besessen haben. Breschnew hatte immer wieder behauptet, der Bomber würde keine Möglichkeit der Betankung in der Luft erhalten, was ihn untauglich für Angriffe gegen die USA gemacht hätte.

Weiterhin eine aktuelle Bedrohung: Tu-22-Bomber in der Ukraine eingesetzt

Laut FAS hätten Medien aus den späten 1980er-Jahren aber Gegenteiliges gehört: Ein Überläufer aus der Sowjetunion habe ausgesagt, dass mit der Backfire regelmäßig interkontinentale Übungen durchgeführt wurden und dass sie über eine einschraubbare Betankungssonde verfügen solle. Außerdem sei diese für jede Backfire auf allen Bomberbasen vorrätig. Er sagte zudem, dass die Sowjets ein aktives Tarn-, Verschleierungs- und Täuschungsprogramm durchführten, um den Westen über die interkontinentale Reichweite des Bombers zu täuschen.

Immerhin wird dieser Typ in der Ukraine eingesetzt, was dagegen spräche, dass es sich um eine vornehmlich strategische Waffe handelt – also für lange Strecken gedacht ist oder war. Das ausgebliebene Ausufern des Kalten Krieges hatte die Nutzungsmöglichkeiten dieser Maschine auch zum Teil überholt – was wahrscheinlich dazu geführt hat, dass der Bestand um fast die Hälfte der Maschinen geschrumpft ist.

Allerdings haben auch die USA Relikte des Kalten Krieges im Dienst belassen: 72 Maschinen der B-52H Stratofortress sind noch einsatzbereit, insofern scheint zwischen den Blöcken an Langstreckenbombern weiterhin Parität zu herrschen. 1965 sei die Maschine erstmals eingesetzt worden, bis 2050 soll sie im aktiven Dienst bleiben, schreibt das Magazin Simple Flying. Demnach hätte die Maschine in den Vietnamkrieg genauso eingegriffen wir in den Golfkrieg 1991, in den Kosovo-Krieg 1999 und gegen Terroristen nach dem Angriff auf das World Trade Center 2001.

Brandgefährlich: Russlands Tu-22 soll Bomben vom Typ Kh-22 und Kh-32 befördern können

In den 1980er Jahren seien Backfires für konventionelle Bombenangriffe in Afghanistan eingesetzt worden, wie die FAS zusammenfasst. 1991 sei dann publik geworden, dass aufgrund eines Mangels an Ersatzteilen einige Backfire-Einheiten nur noch über rund ein Drittel einsatzfähiger Maschinen verfügten. Im Kalten Krieg waren die russischen Backfire-Bomber wohl vor allem auf US-Kriegsschiffe angesetzt worden – speziell gegen Trägerkampfgruppen, wie Mark B. Schneider berichtet. Mit der Modernisierung des Bombers zur aktuellen Version der Tu-22M3 habe Russland sie zukunftsfähig gemacht.

„Die US Navy wird wahrscheinlich noch weitere 20 Jahre mit der Bedrohung durch die Backfire gegen Schiffe konfrontiert sein“, schreibt der Autor des Thinktanks U.S. Naval Institute. Eine erhöhte Reichweite erschwere Trägerkampfgruppen die Abwehr mittels eines Kordons aus eigenen Fliegern.

Allerdings gilt die Befürchtung weniger der Maschine selbst, als deren Bewaffnung. Das System soll Bomben vom Typ Kh-22 und Kh-32 befördern können. „Die Kh-32 macht es schwieriger, die Backfire abzufangen, bevor sie ihre Waffenreichweite erreicht“, schreibt Schneider. Diese Herausforderung versuche auch die Ukraine zurzeit zu meistern, wie Newsweek berichtete. Der Feuerüberfall im Schwarzen Meer auf den Getreidefrachter scheint mit einer Schiffsabwehrrakete AS-4 Kitchen verübt worden zu sein.

Putins Herausforderung: Aktueller Fehlschuss ist ein Zeichen knapper werdender Raketen

Bereits kurz nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs hatten sich Douglas Barrie und Joseph Dempsey über den Einsatz dieser Raketen, die ihrer Beschreibung nach eine ältere und auf Seeziele spezialisierte Version der Kh-22 sei, gewundert. Die beiden Autoren des International Institute for Strategic Studies (IISS) hatten beobachtet, dass diese Raketen offenbar auch auf Landziele in der Ukraine eingesetzt worden waren – mit einer entsprechenden Fehlerquote.

„Russlands Einsatz luftgestützter Antischiffsraketen mit nur begrenzter Sekundärfähigkeit für Landangriffe zum Angriff auf ukrainische Ziele deutet darauf hin, dass sein Bestand an Marschflugkörpern für Landangriffe zur Neige geht“, haben sie 2022 geschrieben. Allerdings scheint diese These knapper werdender Raketen wegen dieses Fehlschusses am nahen Ende des dritten Kriegsjahres möglicherweise kaum mehr zu halten zu sein. Im Gegenteil.

„Wir werden unsere Partner weiterhin von der Notwendigkeit überzeugen, russische Raketen und Drohnen abzuschießen“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj während seines jüngsten Treffens mit dem neuen Nato-Generalsekretär Mark Rutte. Woraufhin er aus den USA prompt von Sabrina Singh zurechtgewiesen wurde, wie Newsweek die stellvertretende Pressesprecherin des Pentagon zitiert: „Wir verfügen über einen begrenzten Vorrat an Langstreckenraketen und werden ihn nicht in die Länge ziehen.“

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