Wegen Putins Bedrohung: Wehrpflicht wieder Thema – doch „altes System“ würde teuer werden
Die Aufrüstung der Bundeswehr ist beschlossene Sache, doch am Personal hapert es noch. Eine neue Wehrpflicht ist Teil der Koalitionsverhandlungen.
Seit der Abschaffung der Wehrpflicht 2011 ist die Zahl der Bundeswehr-Soldaten von knapp 250.000 auf 180.000 gesunken. Erforderlich sind nach Einschätzung von Experten angesichts der neuen Bedrohungslage aber mindestens doppelt so viele. Die mögliche neue schwarz-rote Koalition debattiert nun über die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Wie die ausgestaltet werden könnte, ist allerdings noch strittig – Probleme drohen.
Bundeswehr-Soldaten fehlen – doch Experten sehen große Probleme bei Wehrpflicht-Comeback
„Man kann nicht die alte Wehrpflicht wiedereinsetzen und davon ausgehen, dass die Bundeswehr dann automatisch bald wieder die gewünschte Größe hat. Das ist illusorisch“, sagt Dr. Frank Sauer, Experte der Universität der Bundeswehr München unserer Redaktion. Das Hauptproblem seien fehlende Strukturen. „Es gibt keine Kreiswehrersatzämter mehr, keine Unterkünfte für abertausende Wehrdienstleistende und vor allem kein Personal, das diese ausbildet. Wollte man zum alten System zurück, dann muss man wissen, dass alleine dafür ein zweistelliger Milliardenbetrag fällig wäre.“
Ähnlich sieht es im sozialen Sektor aus, dem einst Wehrdienstverweigerer als Zivildienstleistende zugutegekommen waren. „Wir können den alten Zivildienst nicht von heute auf morgen zurückdrehen und hunderttausende Zivildienstleistende empfangen“, sagt Joß Steinke, Bereichsleiter für Jugend und Wohlfahrtspflege beim Deutschen Roten Kreuz (DRK). „Neben dem drohenden und bereits laufenden Strukturabbau durch mangelnde öffentliche Finanzierung herrscht Pflegenotstand und allgemein Arbeitskräftemangel. Das heißt, die Zivis träfen heute weit mehr als früher auf unterfinanzierte und unterbesetzte Einrichtungen. Damit sinken auch die Kapazitäten, Menschen zu empfangen und in ihrem Dienst zu begleiten.“
Kontingentlösung von Pistorius wahrscheinlichste Variante
Auf dem Tisch liegt noch der Gesetzesvorschlag von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) aus der Ampel-Regierung. Der sieht vor, dass alle jungen Männer verpflichtend über ihre Bereitschaft und Fähigkeit zum Wehrdienst Auskunft geben müssen – und damit erfasst würden. Der eigentliche Dienst bliebe zunächst freiwillig. Das wäre einfach umzusetzen, weil die Wehrpflicht mit einer einfachen Mehrheit ausgesetzt wurde und so auch wieder eingeführt werden könnte.
Experten bei Bundeswehr und sozialen Diensten wünschen sich allerdings eine weitreichendere Neuregelung, die auch Frauen mit einschließt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte bereits vor zwei Jahren eine „Soziale Pflichtzeit“ für Frauen und Männer vorgeschlagen. Dafür wäre allerdings eine Grundgesetzänderung mit Zweidrittelmehrheit erforderlich, was im neuen Bundestag wohl an der Sperrminorität von AfD und Linken scheitern würde.
DRK-Bereichsleiter Steinke mahnt. „Wir tun uns immer schwerer, junge Menschen zu erreichen und zu begeistern. Gleichzeitig ist der Fachkräftemangel gravierend. Darum wäre es sinnvoll, wenn es eine verpflichtende Beratung für junge Männer und Frauen gäbe.“ Steinke denkt etwa an eine „peer-to-peer-Beratung“: Darin könnten „junge Menschen, die aktuell ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren, potenziellen Nachwuchs beraten und von ihren Erfahrungen berichten“.
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Das DRK ist auf diesen Nachwuchs dringend angewiesen. „Im Idealfall kommen junge Menschen mit dem sozialen Sektor in Berührung, finden hier ihre Berufung und erlernen dann vielleicht sogar einen entsprechenden Beruf. Das ist für unsere Gesellschaft dringend nötig. Aber auch die jungen Menschen haben Vorteile davon: man beteiligt sich sinnvoll und es ist auch auf einer persönlichen Ebene gewinnbringend und bereichernd.“
Wehrpflicht? Bundeswehrexperte fordert Stärkung von Bevölkerungs- und Katastrophenschutz
Auch der Forschungsleiter des Metis Instituts für Strategie und Vorausschau an der Münchner Bundeswehruniversität Sauer wünscht sich eine weitreichendere Neuregelung. „Meine Wunschlösung wäre ein verpflichtender Dienst an der Gesellschaft, breit angelegt, also Bundeswehr und Blaulichtorganisationen, und zwar für alle, nicht nur für Männer“, sagt Sauer. „Wir müssen nicht nur die Verteidigungsfähigkeit stärken, sondern auch den Bevölkerungs- und Katastrophenschutz, wenn wir als Gesellschaft insgesamt resilienter werden wollen“, betont er.
„Die Klimakrise beschert uns zunehmend Extremwetter-Phänomene. Wir brauchen also viele Mitbürgerinnen und Mitbürger, die wissen, wo ist der nächste Schutzraum, wo ist der Wärmeraum, wo gibt es Strom, wie stapelt man Sandsäcke, wo sind sie gelagert, wo stehen Generatoren und Diesel – all sowas muss man natürlich auch üben.“ Auch der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter hatte zuletzt im Merkur-Gespräch einen „Gesellschaftsdienst“ in diesem Sinne gefordert.
Sauer bezweifelt zugleich, dass die Kontingentlösung ausreicht, um die Truppenstärke zu erhöhen. „Trotz aller Bemühungen hat die Truppe aktuell nur das Schrumpfen gestoppt. Von Aufwuchs kann noch keine Rede sein. Es gibt eine Überalterung. Und wenn die Zahl der Ausscheidenden nicht durch Nachwuchs überkompensiert wird, dann bedeutet das eben, dass die Bundeswehr die Truppenstärke von 181.000 Soldaten bestenfalls halten, aber nicht wie gewünscht wachsen kann. Ob wir den Trend zur Stagnation mit einer Kontingentlösung nachhaltig ändern können, ist offen.“