Kampf um Pokrowsk: Entscheidung im Ukraine-Krieg?
Pokrowsk steht für die letzte Festung vor Westen. Die Verteidiger leisten heftigen Widerstand, doch die Russen scheinen ihre Strategie angepasst zu haben.
Pokrowsk – „Die Lage ist generell schwierig, der Feind greift ständig zu Fuß an“, sagt der stellvertretende Kommandeur der 59. Angriffsbrigade der Ukraine gegenüber dem britischen Independent. Die Einheit des unter dem Namen „Phönix“ kämpfenden Offiziers verteidigt verbissen die Front um Pokrowsk gegenüber Wladimir Putins Invasionstruppen. Der Kampf um die Metropole ist einer auf Messers Schneide; die gesamte Region Donezk hängt von ihrem Schicksal ab. Allerdings steht die Stadt auch für den gesamten Ukraine-Krieg. Pokrowsk wird seit Monaten totgesagt, allerdings könnte sich das Blatt auch wenden. Beinahe täglich.
„Die Säuberung der Stadt ist fast abgeschlossen!“, postete der Telegram-Kanal „Voenkori“, der meldete, russische Truppen hätten die Stadt „gestürmt“ und ukrainische Truppen seien „über den Fluss nach Grigorovka geflohen“ – Newsweek sowie andere Quellen berichteten, dass rund um die Stadt Pokrowsk Wladimir Putins Truppen möglicherweise inzwischen die Oberhand gewonnen haben könnten. Bestätigungen oder Dementis der Ukraine allerdings bleiben aus – obwohl dort anscheinend Elite-Kämpfer eingesetzt sind.
Ukraine-Krieg: Russische Offensive gegen diese Stadt läuft ungefähr seit Mitte Juli vergangenen Jahres
Das war der Stand im Oktober vergangenen Jahres. Seit dieser Zeit haben sich die Fronten immer wieder verschoben, beziehungsweise haben die Russen keinen entscheidenden Boden gutmachen können. Die russische Offensive gegen diese Stadt beziehungsweise gegen diese Region läuft ungefähr seit Mitte Juli vergangenen Jahres; also fast ein dreiviertel Jahr russischen Anrennens ohne entscheidenden Durchbruch der Aggressoren, die mit geschätzt der vierfachen Übermacht an Kräften auf die Verteidiger losstürmen.
Die Ukraine hat Mühe, die kleinen Infanterieangriffe Russlands zurückzuschlagen, weil sie nicht über genügend eigene Truppen verfügt, um die Frontlinien flächendeckend abzusichern.
Die Metropole ist ein entscheidendes Logistikzentrum für die ukrainischen Truppen aufgrund ihrer Bahnanbindung und der Kreuzung mehrerer wichtiger Straßen. Die Hoheit über diese Stadt ist vielleicht weniger kriegsentscheidend, als dass sie auch einen eminenten moralischen Einfluss auf beide Seiten ausüben kann. Russland hätte einen bedeutenden Schritt nach vorn gemacht, die Ukraine hätte trotz hartnäckiger Bemühungen eine weitere Bastion verloren geben müssen.
Ende vergangenen Jahres hatte die New York Times (NYT) einen Militäranalysten der in Finnland ansässigen Black Bird Group zitiert mit der Aussage, zwischen September und November vergangenen Jahres hätte Russland „mehr als 600 Quadratmeilen ukrainischen Territoriums erobert“. Also etwa die doppelte Größe von New York City, wie Emil Kastehelmi sagte. Den meisten Boden hätte Russland dabei in der Region Donezk gutgemacht. Ihm zufolge würde sich der Vormarsch trotz schwerer Verluste der Russen jeden Monat beschleunigen. Es sei davon auszugehen, dass Russland bis zum Jahresende 2024 möglicherweise weitere 300 Quadratkilometer ukrainischen Territoriums dazugewonnen haben sollte.
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Putin marschiert: Russische Streitkräfte ziehen die Schlinge um Pokrowsk langsam zu
Inzwischen möglicherweise auch schon deutlich mehr. Laut „Phönix“ verfüge Russland tatsächlich über eine weitaus größere Infanteriestärke, greife in kleinen Gruppen an, sei bereit, extrem hohe Verluste in Kauf zu nehmen, und nutze die Landschaft und die schlechte Sicht geschickt aus, um sich vor Drohnen zu verstecken, wie der Offizier „Phönix“ von Independent zitiert wird.
Tatsächlich soll sich die Lage um die Stadt verschärft haben, legt Reuters gerade nahe: „Russische Streitkräfte ziehen die Schlinge um die ostukrainische Stadt Pokrowsk langsam zu“, schreibt aktuell Max Hunder für die Nachrichtenagentur. Offenbar liege das daran, dass Russland jetzt doch seine Taktik geändert habe. Das ukrainische Militär will demnach beobachtet haben, dass die Russen versuchten, Pokrowsk von Westen her zu umgehen und einzukesseln, wie Viktor Trehubov gegenüber Reuters gesagt hat.
Dem ukrainischen Militärsprecher zufolge hätten die Russen aufgegeben, durch verlustreiche Frontalangriffe und Straßenkämpfe Meter zu machen. „Es scheint, als hätten sie vielleicht zum ersten Mal damit begonnen, Kräfte zu schonen“, wie Reuters Trehubov zitiert. Wie „Phoenix“ erläutert, wäre Russland dazu übergegangen, drei- oder vierköpfige Trupps von Infanteristen tief in feindliches Gebiet hineinzuschicken, um mithilfe von Panzerabwehrminen ukrainische Soldaten und Fahrzeuge aus dem Hinterhalt anzugreifen. Im Gegensatz dazu habe die Intensität von Russlands Sperrfeuer nachgelassen.
Russlands Offensive bei Pokrowsk: Möglicherweise ist das die Folge der taktischen Umstellung
Möglicherweise ist das die Folge der taktischen Umstellung; vielleicht auch lediglich dem zunehmendem Schwund an Munition geschuldet. Eine andere These besteht darin, dass Putin die direkte Konfrontation mit der Infanterie befohlen hat, weil er um die quantitative Überlegenheit seiner eigenen Kräfte weiß. Pokrowsk ist ein sehr wichtiger Knotenpunkt, ein Zentrum der Verteidigung. Wenn wir Pokrowsk verlieren, wird die gesamte Frontlinie zusammenbrechen“, warnte Mychajlo Schyrochow gegenüber dem britischen Sender BBC.
Dem ukrainischen Historiker und Journalisten zufolge würde der Verlust von Pokrowsk einen Domino-Effekt auf andere strategische Städte provozieren, wie zum Beispiel Tschassiw Jar, das auf beherrschenden Höhen liege und von dort aus die Kontrolle über das weitere Gebiet erlaube, wie Schyrochow andeutet. Sollte es den Russen gelingen, diese Straße zu blockieren, wäre die Versorgung der Frontlinie Tschassiw Jar – Toretsk noch möglich über eine längere, nördliche Route, die führe über Kramatorsk, so Schyrochow. Der mögliche Verlust dieser Straße würde also nicht alle Versorgungswege abschneiden, aber die Lieferungen erschweren, so die Analysten Christian Mölling und András Rácz gegenüber dem ZDF.
Neben der militärischen Logistik bedeutete der Verlust von Pokrowsk auch eine wirtschaftlich tiefe Wunde, worauf Keith Johnson im Magazin Foreign Policy hinweist: Sollte den Russen nach Pokrowsk der weitere Weg nach Westen offenstehen, hätten sie womöglich Zugriff auf die ukrainischen Produktionsstätten für Kokskohle, die ein wichtiger Baustein für die die veralteten Hochöfen der ukrainischen Eisen- und Stahlproduktion darstellt. Wäre die Ukraine dann auch teure Importe angewiesen, verlöre sie dadurch ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt.
In Pokrowk herrscht Hilflosigkeit und Trotz: Präsident Selenskyj reagiert mit neuer Führung
Angesichts eines drohenden Durchmarsches der russischen Invasionskräfte gen Westen hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj offenbar zu reagieren versucht, wie Reuters meldet. Laut der Nachrichtenagentur soll er einen der ranghöchsten Generäle des Landes und Chef der Landstreitkräfte neu mit der Bereinigung der Angelegenheit betraut haben. Reuters meldet, Mychailo Drapatyi sei jetzt Leiter des strategischen Kommandos, das einen großen Teil der Frontlinie, darunter auch Pokrowsk, überwache. Rob Lee sieht darin eine Verstärkung, wie er Reuters gegenüber geäußert hat. Der Analyst des US-Thinktanks Foreign Policy Research Institute verspricht sich von der neuen Führung eine verbesserte Koordination zwischen den an der Front stehenden Einheiten.
In Pokrowk herrsche Hilflosigkeit und Trotz, hat kürzlich das ZDF berichtet; und eben auch darüber, dass die Bevölkerung in diesem Ort ihre Sympathien zu fast gleichen Teilen an beide Kriegsparteien verteile. Die Hälfte der Bewohner soll überdies Russisch sprechen. Da die Gegend von der Kohle geprägt ist, hatten die dortigen Kumpel und ihre Familien auch zu Sowjetzeiten ein privilegiertes Leben – was gerade unter älteren Bewohnern noch eine lebendige Erinnerung zu sein scheint. Das verschärfe die Lage für die ukrainischen Verteidiger zusätzlich, berichtet ZDF-Reporter Luc Walpot.
Allerdings ist das ob der aktuellen Lage eher eine Marginalie. Den Verteidigern schwinden schlicht die Kräfte; jedem Soldaten individuell und der ukrainischen Armee allgemein, sagt Pasi Paroinen. Den Analysten der finnischen Statistiker Black Bird Group zitiert Reuters zum Beleg, dass das Russlands einzige Einfallstore nach Pokrowsk sein werden: die Lücken in der Front, wie Paroinen deutlich macht: „Die Ukraine hat Mühe, die kleinen Infanterieangriffe Russlands zurückzuschlagen, weil sie nicht über genügend eigene Truppen verfügt, um die Frontlinien flächendeckend abzusichern.“