Im Minenfeld: Selenskyj wird wegen hoher Verluste im Krieg zu drastischen Entscheidungen genötigt
Offensiven der Russen und der Alliierten: Die Ukraine stellt auf Infanteriekampf um und will auch Frauen rekrutieren: Selenskyj kämpft um die Zukunft.
Kiew – „Die Leute, die wir jetzt bekommen, sind nicht wie die Leute, die zu Beginn des Krieges dort waren“, klagt ein Soldat der 114. Territorialverteidigungsbrigade der Ukraine. Mit dem Zitat untermauert Shaun Walker seine These, dass die Verteidiger gegen Wladimir Putins völkerrechtswidrigen Überfall vor gravierenden Entscheidungen stünden, wie der Reporter des britischen Guardian berichtet. Während Russland Personal aus einer vermeintlich unendlich sprudelnden Quelle zu schöpfen scheint, sind die ukrainischen Einheiten immer stärker zum Improvisieren gezwungen.
Bereits im August hatte die US-amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press (AP) von der geringen Ausbildungsqualität der neuen Rekruten berichtet. Angeblich hätten die frisch mobilisierten Soldaten sogar Hemmungen, auf Wladimir Putins Invasionstruppen zu schießen – was beispielsweise in den Kämpfen um Pokrowsk vorgekommen sein soll. Zwei Jahre vor Ausbruch des Ukraine-Krieges hatte das Nachrichtenmagazin Spiegel „Kriegstraumata“ wieder auf die Agenda gehoben und konstatiert, dass allein der Erste Weltkrieg allein im Deutschen Reich mehr als 600.000 Männer psychisch verkrüppelt hätte.
Alt, krank oder Alkoholiker: USA fordern, die Ukraine müsse jüngere Menschen in die Armee holen
Die Zahl der Traumatisierten durch den Ukraine-Krieg wird später zu beziffern sein; jetzt scheint die Ukraine Männer mobilisieren zu müssen, die weder in den Krieg wollen, die für Kampfeinsätze noch zu viel Zukunft vor sich haben oder längst nicht mehr tauglich sind. Nicht die Angst durch den Krieg scheint das männliche Volk zu lähmen, sondern vor dem Eintritt in diesen. „Vor kurzem haben wir 90 Leute bekommen, aber nur 24 von ihnen waren bereit, ihre Stellungen einzunehmen. Der Rest war alt, krank oder Alkoholiker. Vor einem Monat liefen sie noch in Kiew oder Dnipro herum und jetzt liegen sie in einem Schützengraben und können kaum eine Waffe halten. Schlecht ausgebildet und schlecht ausgerüstet“, diktiert die anonyme Quelle dem Guardian-Reporter in den Block.
„Ukrainische Teenager fürchten ein düsteres Dilemma: Kämpfen oder weglaufen“
Um halbwegs handlungsfähig zu bleiben, scheint die Ukraine auch Soldaten verschiedener Waffengattungen auf Infanteriekampf vorzubereiten. Shaun Walker berichtet davon, dass die Luftabwehr-Batterien ausgedünnt würden und zieht als Beleg auch dafür seine anonyme Quelle heran: „Diese Leute wussten, wie die Luftabwehr funktioniert. Einige waren im Westen ausgebildet worden und verfügten über echte Fähigkeiten. Jetzt werden sie an die Front geschickt, um zu kämpfen, ohne dafür ausgebildet zu sein“, wie die Quelle gesagt hat.
Aktuell berichtet die Nachrichtenagentur Reuters über den immer stärker zu spürenden Druck, der auf jungen geflüchteten Erwachsenen lastet: „Ukrainische Teenager fürchten ein düsteres Dilemma: Kämpfen oder weglaufen“, schreibt Autorin Anastasiia Malenko. Auch die Verbündeten der Ukraine wünschen sich offenbar immer fordernder ein stärkeres Engagement auch wehrfähiger Exil-Ukrainer – beispielsweise Antony Blinken. „Die Ukraine müsse jüngere Menschen in die Armee holen, um in dem von Russland gegen das Land geführten Krieg erfolgreich zu sein“, sagte der US-Außenminister Anfang Dezember gegenüber Reuters.
Luftwaffe blutet aus: Selenskyj lehnt die Einberufung von 18-Jährigen ab und fordert mehr Waffen
Nach der Bundestagswahl könnte gegenüber jungen männlichen Erwachsenen auch in Deutschland stärkere Geschütze aufgefahren werden: Alexander Dobrindt (CSU) hatte Mitte Juni gegenüber der Tagesschau geäußert, seine Fraktion fordere, ukrainische Kriegsflüchtlinge in ihre Heimat zurückzuschicken, wenn sie in Deutschland keine Arbeit aufnehmen. „Es muss jetzt über zwei Jahre nach Kriegsbeginn der Grundsatz gelten: Arbeitsaufnahme in Deutschland oder Rückkehr in sichere Gebiete der Westukraine“, sagte der CSU-Landesgruppenchef der Bild am Sonntag. Allerdings könnte den jungen Männern dort die Wehrpflicht drohen.
Wenn Präsident Wolodymyr Selensky das Alter der Wehrpflicht von zuletzt 25 Jahren weiter senkt – dem er sich bisher strikt verweigert hat – und wohl weiter verweigern wird, wie die Kiew Post jüngst geschrieben hat. Selenskyj lehne die Einberufung von 18-Jährigen ab – dafür fordere er von den USA mehr Waffen. Wofür ihm aber das perfekte Personal fehlen würde, was der Guardian gerade nahelegt.
Es sei unmöglich, so etwas zu leiten, bedauerte ein Offizier der Luftverteidigung gegenüber dem britischen Blatt. „Ich bin schon auf weniger als die Hälfte meiner vollen Stärke herunter. In den letzten Tagen kam die Kommission und sie wollen Dutzende mehr. Ich bin mit den über 50-Jährigen und den Verletzten zurückgeblieben“, äußerte die anonyme Quelle. Shaun Walker sagten offenbar alle Interviewten unisono, „dass die steigenden Anforderungen an Versetzungen es schwierig machten, die Luftabwehreinheiten ordnungsgemäß zu betreiben“, wie er festhielt.
Dilemma der Ukraine: Geburtenrate könnte sinken, wenn Selenskyj der Forderung des Pentagon nachgäbe
Mehrere Medien berichten, dass die aktuelle US-Regierung verärgert sei über Selenskyjs Weigerung, jüngere Männer in den Krieg zu schicken. Wie The New Voice of Ukraine vermuten lässt, bestünde auch Zwist innerhalb der ukrainischen Führung. Ivan Timotschko hatte Ende Dezember gegenüber dem Medium erklärt: Vom kommenden Jahr an sei für 18- bis 25-jährige Männer die militärische Grundausbildung Pflicht, so der Vorsitzende des Reserverats der ukrainischen Bodentruppen. Wenige Tage später jedoch dementierte das der Berater des ukrainischen Präsidenten weitestgehend: Laut Dmytro Lytvyn bestünden keine Vorbereitungen für eine Senkung des Wehrpflichtalters auf 18 Jahre.
Der Aderlass der ausgebildeten Einheiten halte schon länger an, sagte die anonyme Quelle des Guardian: „Das geht jetzt schon seit einem Jahr so, aber es wird immer schlimmer“. Laut dem britischen Soldaten-Sender BFBS Forces News bezeichne Selenskyj die nachwachsenden Männer als „die Väter der Zukunft“ und wolle möglichst vielen die Schützengräben ersparen. Tatsächlich wartet das Magazin Newsweek auf mit der These, die Geburtenrate in der Ukraine könnte sinken, wenn Selenskyj der Forderung des Pentagon nachgäbe.
Allerdings habe das ukrainische Parlament mit dem Gesetzentwurf 12076 in der ersten Lesung jetzt einen Vorstoß verabschiedet, der Frauen bei Vorliegen der Gesundheits- und Altersvoraussetzungen den Dienst an der Waffe vorschreiben beziehungsweise zunächst eine Grundausbildung aufnötigen soll; darüber berichtet Newsweek aufgrund einer Meldung des ukrainischen Nachrichtensenders Strana News. Bisher sind Frauen in Schützengräben als Freiwillige erlaubt. Und die neue Offensive erntet auch gleich Kritik.
Putins Offensiven fordern Tribut – Generalstab gesteht: Situation an der Kampfkontaktlinie sei schwierig
Newsweek stützt sich auf Zahlen der Nachrichtenagentur Reuters, wonach die ukrainische Bevölkerung „seit Beginn des Krieges im Jahr 2022 aufgrund von Todesfällen, Asylsuchenden und Geburtenproblemen um zehn Millionen Menschen gesunken“ sei. Der ukrainische Präsident bewegt sich politisch in einem Minenfeld. Seine Alliierten sowie seine Offiziere fordern von ihm forsches Rekrutieren, um die Gegenwart zu bewältigen, im parlamentarischen Prozess soll die Zukunft gesichert werden. Potenziell kann Selenskyj also nur falsche Entscheidungen treffen.
Laut dem Generalstab der Streitkräfte bedeute die Umstellung auf Infanteriekampf aber keine grundsätzliche Schwächung der Verteidigungsbemügungen, wie die Online-Plattform meduza berichtet. Die Luftverteidigung sei immer noch gut gewappnet gegen Drohnenangriffe, wie der Generalstab klarstellt: „Wir sprechen über die Neuzuweisung und Zuweisung einiger Militärangehöriger der Luftwaffen-Wachkompanien, einiger hinterer mobiler Feuergruppen sowie von Personal, das nicht an der Wartung und dem Betrieb von High-Tech-Waffen und militärischer Ausrüstung beteiligt ist. Die Situation an der Kampfkontaktlinie ist schwierig, und jetzt geht es vor allem darum, die Front zu halten.“
Aus dem Parlament kommt derweil eine neue Idee, wie Newsweek berichtet. Mariana Bezuglaya soll sich ausdrücklich für eine Dienstverpflichtung von Frauen ausgesprochen haben, allerdings nur abseits der Front, wie die Abgeordnete auf Telegram gepostet haben soll, um zu vermeiden, dass die Gesellschaft in zwei Klassen gespalten und Männer durch die Wehrpflicht „illegal diskriminiert“ würden. Demnach hielte sie für sinnvoll, „Frauen für Positionen im Hinterland als Schreibkräfte, Personaloffizierinnen und Sicherheitseinheiten rekrutieren zu lassen, um den Männern zu ermöglichen, an die Front zu gehen und sich den Kampfbrigaden anzuschließen“.