Lage im Donbass wird kritisch: Russland gewinnt Boden um Schlüssel-Ortschaft Pokrowsk

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Geisterstadt: Ruinen der Stadt Pokrowsk – die ostukrainische einstige Metropole gilt als Logistikzentrum des ukrainischen Militärs. Sollte die Stadt fallen, wären die Verteidiger zu einem großen Umweg für ihren Nachschub gezwungen. © Roman Pilipey / AFP

Pokrowsk und Tschassiw Jar sind womöglich akut bedroht. Trotz Berichten über herbe russische Verluste rollt Putins Armee voran. Beinahe unaufhaltsam.

Pokrowsk – „,Die Säuberung der Stadt ist fast abgeschlossen!‘, postete der Telegram-Kanal „Voenkori“ und sagte, russische Truppen hätten die Stadt „gestürmt“ und ukrainische Truppen seien ,über den Fluss nach Grigorovka geflohen‘“ – Newsweek sowie andere Quellen berichten aktuell, dass rund um die Stadt Pokrowsk Wladimir Putins Truppen möglicherweise inzwischen die Oberhand gewonnen haben könnten. Bestätigungen oder Dementis der Ukraine allerdings bleiben bisher aus – obwohl dort anscheinend Elite-Kämpfer eingesetzt sind.

Pokrowsk liegt seit Monaten unter schwerem russischen Beschuss. Die Metropole ist ein entscheidendes Logistikzentrum für die ukrainischen Truppen aufgrund ihrer Bahnanbindung und der Kreuzung mehrerer wichtiger Straßen. Die Hoheit über diese Stadt ist weniger kriegsentscheidend, als dass sie auch einen eminenten moralischen Einfluss auf beide Seiten ausüben kann – Russland hätte einen bedeutenden Schritt nach vorn gemacht, die Ukraine hätte trotz hartnäckiger Bemühungen eine weitere Bastion verloren geben müssen.

Ostukraine bedroht: Fällt Pokrowsk, „wird die gesamte Frontlinie zusammenbrechen“

Parallel dazu meldet der britische Geheimdienst auch Durchbrüche in der von Pokrowsk rund 100 Kilometer gen Osten liegenden Stadt Tschassiw Jar – trotz heftigen Widerstands soll den Russen im Westen die Annäherung an die Stadtgrenze gelungen sein, insofern könnten sie sich entlang der Achse zwischen beiden Städten festbeißen, berichtet aktuell das Magazin Defense Express: „Pokrowsk ist ein sehr wichtiger Knotenpunkt, ein Zentrum der Verteidigung. Wenn wir Pokrowsk verlieren, wird die gesamte Frontlinie zusammenbrechen“, warnte Mychajlo Schyrochow gegenüber dem britischen Sender BBC.

„Beide Seiten kämpfen darum, vor dem November die Oberhand zu gewinnen, wenn Kälte und Schnee den Vormarsch erschweren und die USA, der wichtigste Unterstützer der Ukraine, Präsidentschaftswahlen abhalten.“

Dem ukrainischen Historiker und Journalisten zufolge würde der Verlust von Pokrowsk zumindest einen Domino-Effekt auf andere strategische Städte provozieren, wie zum Beispiel Tschassiw Jar, das auf beherrschenden Höhen liege und von dort aus die Kontrolle über das weitere Gebiet erlaube, wie Schyrochow andeutet. Sollte es den Russen gelingen, diese Straße zu blockieren, wäre die Versorgung der Frontlinie Tschassiw Jar – Toretsk noch möglich über eine längere, nördliche Route, die führe über Kramatorsk, so Schyrochow. Der mögliche Verlust dieser Straße würde also nicht alle Versorgungswege abschneiden, aber die Lieferungen erschweren, so die Analysten Christian Mölling und András Rácz gegenüber dem ZDF.

Laut Newsweek belegen Aufnahmen, dass russische Truppen eine russische Flagge über einem städtischen Rathaus in Selydowe gehisst haben – hätten sie diese Stadt von regionaler Bedeutung mit ihren rund 23.000 Bewohnern unter Kontrolle, wären Russlands Truppen lediglich 17 Kilometer von Pokrowsk entfernt. Möglicherweise steht der Stadt also ein ähnlich zermürbender Häuserkampf bevor, wie ihn schon Awdijiwka erdulden musste.

Putins Ziel: „Diese beiden Städte sind der Schlüssel zu Russlands Kampf in der Ostukraine“

Um Pokrowsk zu retten, habe die ukrainische Nationalgarde eine ihrer wenigen Angriffsbrigaden eingesetzt: Die Kara-Dag-Brigade sollte Russlands Truppen Einhalt gebieten, schrieb bereits Anfang September das Magazin Forbes. Offenbar hat die allein mit vermutlich 2000 Kräften kämpfende Truppen der russischen Angriffswelle ebenfalls weichen müssen.

„Diese beiden Städte sind der Schlüssel zu Russlands Kampf in der Ostukraine“, hatte das Wall Street Journal Mitte September prophezeit. Offenbar hat auch Donald Trump die Russen zur Offensive gehetzt: „Beide Seiten kämpfen darum, vor dem November die Oberhand zu gewinnen, wenn Kälte und Schnee den Vormarsch erschweren und die USA, der wichtigste Unterstützer der Ukraine, Präsidentschaftswahlen abhalten“, schreiben die WSJ-Autoren James Marson und Carl Churchill.

Während der Verlust Pokrowsks die Ukraine um einen Großteil ihrer Logistik-Kapazitäten brächte, servierte eine russische Festung in Tschassiw Jahr die Ukrainer den Aggressoren auf dem Präsentierteller. Die geographisch exponierte Lage der Stadt würde ukrainische Truppen durch verstärkten Artillerie- und Drohneneinheiten in der ausgedehnten Steppenlandschaft des Donezk katastrophal bedrohen. Momentan steht die Ukraine dort mit dem Rücken an der Wand. Hätte deren Kursk-Operation für die dortige Front Entlastung bewirkt haben sollen, ist der Plan vollends misslungen.

Zähe Offensive Russland: Mit Tschassiw Jars sehen Beobachter die Region Donezk als verloren an

Mit dem Fall Tschassiw Jars sehen einige Beobachter die Region Donezk sogar als verloren an. Möglicherweise hängt die Kursk-Operation doch unmittelbar mit der Situation im Donezk zusammen: Ende September hatte die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) berichtet, dass die Qualität der ukrainischen Soldaten dort genauso schlecht sei wie die der russischen Wehrpflichtigen in der Region Kursk.

Angeblich hätten die frisch mobilisierten Soldaten sogar Hemmungen, auf Wladimir Putins Invasionstruppen zu schießen – wie beispielsweise in den Kämpfen um Pokrowsk abzulesen ist. AP zufolge führt das von Präsident Wolodymyr Selenskyj erlassene neue Rekrutierungsgesetz zum Nachschub von rund 10.000 Kämpfern pro Monat. Deren Schulung soll jedoch kaum auf die Realität der Front vorbereiten, wie die Nachrichtenagentur erfahren haben will.

Verluste durch schlecht ausgebildete Soldaten: Russen zahlenmäßig weiter überlegen

„Manche weigern sich, auf Gegner zu schießen, andere haben Schwierigkeiten mit grundlegenden Kampftechniken oder lassen sogar ihre Posten im Stich: Das berichten Befehlshaber und Kameraden über neue ukrainische Soldaten“, meldet AP und zitiert einen erfahrenen Kämpfer der 110. Brigade, die in Donezk kämpft: „Das Hauptproblem ist der Überlebensinstinkt der Neuankömmlinge. Früher konnten die Leute bis zum letzten Moment durchhalten und ihre Stellungen halten. Jetzt ziehen sie sich sogar bei leichtem Beschuss in ihre Feuerstellungen zurück.“

Die Katastrophenmeldungen dieser Region begannen bereits im Sommer; offenbar treffen in dieser Region auf beiden Seiten ausgezehrte Kräfte aufeinander. Immer wieder müssen die Ukrainer stoßtruppartigen Infanterieangriffe durchführen – dabei nützen auch kaum schwere Waffen, weil die Ziele sehr verstreut liegen und zur Bekämpfung hoher Personaleinsatz nötig ist.

Laut Roman Ponomarenko sei die Lage an der Front in der Region Donezk bereits im August außer Kontrolle geraten gewesen, wie ihn die Kyiv Post zitiert hatte. Der Offizier der 12. Spezialbrigade „ Asow“ der ukrainischen Nationalgarde sagte der Post, „dass die russischen Streitkräfte nur deshalb nicht tiefer vordringen, weil sie ebenso erschöpft seien wie die ukrainischen Truppen. Trotzdem seien die Russen zahlenmäßig immer noch deutlich überlegen und verfügten über praktisch unbegrenzte Munitionsvorräte“.

Pokrowsk als Winterquartier: Kampf um jeden Meter bis zum Eintreffen des Herbstregens

Wie der Armeekommandeur Oleksandr Syrsky zu der Zeit mitgeteilt hat, wollte der Kreml für seine Offensive im Donbass, 50.000 bis 60.000 Soldaten zusammengezogen haben. Ihm zufolge würde sich Pokrowsk zu einem der aktuell am heftigsten umkämpften Ortschaften entwickeln – offenbar war die Prognose zutreffend. „Es ist ein äußerst riskantes Glücksspiel“, hatte Forbes-Autor David Axe Anfang September behauptet.

Grund dafür war die Verlegung der Kara-Dag-Brigade an den Brennpunkt um Pokrowsk. Da scheinbar zu dem Zeitpunkt bereits absehbar war, dass auch die Elite-Formation mit ihren wenigen T-64-Panzern die russische Offensive höchstens verlangsamen könnte, wurde der Ruf nach dem Einsatz von Reserven lauter. „Sicher, viele ukrainische Soldaten, die nicht ohnehin schon irgendwo Schützengräben besetzten, haben sich der Überraschungsinvasion der Ukraine in der russischen Oblast Kursk angeschlossen“, schreibt Axe.

Angesichts der aktuellen Entwicklungen scheint aber fraglich, ob die Ukraine die Bedeutung der dortigen russischen Offensive unterschätzt oder zahlenmäßig keine anderen Optionen gehabt hatte. Fest steht zumindest, dass beide Kriegsgegner aktuell um die letzten Meter dieses Jahres kämpfen – wie Christian Mölling und András Rácz im ZDF gesagt haben: „Die Stadt Pokrowsk wird wahrscheinlich für eine Weile den nordwestlichen Endpunkt der jüngsten russischen Offensive im Donbass markieren, und zwar bis zum Eintreffen des Herbstregens.“

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