Wladimir Putin setzt alles darauf an, die ukrainische Stadt Pokrowsk zu erobern. Die Offensive stellt die ukrainische Armee vor ein altes Problem.
Kiew/Moskau – Die Lage in der ukrainischen Stadt Pokrowsk ist brenzlig. Zur Verstärkung der Verteidigung vor Ort hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zusätzliche Soldaten in die schwer umkämpfte Ortschaft verlegt. Mit seiner Offensive gegen den strategisch wichtigen Knotenpunkt legt Moskaus Machthaber Wladimir Putin den Finger in die Wunde. Die Ukraine leidet ohnehin unter akutem Personalmangel in der Armee. Die Lage in Pokrowsk könnte auch Folgen für die gesamte Lage im Ukraine-Krieg haben.
Russland ist sich dessen bewusst. Putin nutzt die Konzentration der ukrainischen Streitkräfte bei Pokrowsk aus – und versucht gleichzeitig im Südosten der Ukraine Territorium gutzumachen. Russische Truppen drohen, andere strategisch wichtige Städte wie Orichiw und Huljaipole einzukesseln, berichtet die ukrainische Nachrichtenagentur Unian.
Russland mit Fortschritten an der Ukraine-Front – abseits Pokrowsk
Das amerikanische „Institute for the Study of War“ (ISW) berichtet ebenso, dass russische Truppen versuchen könnten, Huljaipole von Nordosten her zu umzingeln, um die ukrainische Verteidigung zu schwächen. Mit Infiltrationstaktiken versuche die russische Armee an der Ukraine-Front schnell voranzukommen und die ukrainischen Städte einzunehmen. Moskau zielt dabei auf lokale Versorgungslinien und ukrainische Drohneneinheiten ab. Mit der berüchtigten „Fleischwolftaktik“ versucht Russland dann geschwächte ukrainische Verteidigungsanlagen durch Massenangriffe kleiner russischer Trupps zu überwältigen.
Militäranalyst Michael Kofman erklärte gegenüber dem britischen Telegraph: „Während alle Aufmerksamkeit auf Pokrowsk gerichtet ist, findet der Großteil der russischen Offensive südwestlich davon statt, an der Grenze zwischen Saporischschja, Dnipro und Donezk, und hat sich in den letzten Wochen beschleunigt.“ Die ukrainische Verteidigung wirke zunehmend zersplittert, warnte Kofman. „Das Gebiet scheint sowohl für Russland als auch für die Ukraine eine geringere Priorität zu haben … Die Gegenoffensive in Pokrowsk bedeutet, dass wenig Kräfte übrig bleiben, um die Situation an anderen Orten zu stabilisieren.“ Somit macht sich der Personalmangel vor allem an der übrigen Ukraine-Front bemerkbar – nicht unbedingt an der umkämpften Stadt Pokrowsk.
Pokrowsk im Fokus: Während die Ukraine sich die Stadt verstärkt rückt Putin an der Ukraine-Front vor
Nach Angaben proukrainischer Karten sind russische Truppen in diesem Gebiet in sechs Wochen etwa 30 Kilometer vorgerückt. Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Alexander Syrsky, bestätigte unterdessen eine erhebliche Verschlechterung der Situation in den Richtungen Oleksandriwka und Huljajpole. Er berichtete, dass der Feind unter Ausnutzung seiner zahlenmäßigen Überlegenheit an Kräften und Mitteln in harten Kämpfen vorgerückt sei und zwei Siedlungen erobert habe: Nove und Nowouspeniwka.
Analysten warnen, dass die russischen Besatzer nun Kräfte sammeln, um sich in Richtung Huljajpole zu bewegen – auch wenn Russland derzeit noch nicht über die Ressourcen für die Einnahme der Siedlung verfügt. Die strategisch wichtigen Städte Orichiw und Huljajpole drohen durch den russischen Vormarsch umzingelt zu werden. Beide Städte sind für die Verteidigung der ukrainischen Großstadt Saporischschja (ca. 700.000 Einwohner) von entscheidender Bedeutung.
Einige Analysten vermuten, dass Russland mit seinem Vormarsch versucht, die Ukraine zu zwingen, Ressourcen in die Oblast Saporischschja zu verlegen und sie damit von Pokrowsk abzulenken. Kofman merkte jedoch an, dass russische Truppen weiterhin „taktisch ineffizient“ agieren, da Einheiten „Positionen und Vorstöße melden, die nie stattgefunden haben.“
Pokrowsk weiter schwer umkämpft - Russlands Angriffe „teilweise erfolgreich“
Gleichzeitig intensiviert sich der Kampf um Pokrowsk selbst. Nach Angaben des ukrainischen 7. Korps der Luftlandetruppen war Russlands jüngster Großangriff mit leichten Fahrzeugen auf Pokrowsk „teilweise erfolgreich“. Über 300 russische Soldaten befinden sich schon länger in der Stadt, während Selenskyj bereits Ende Oktober erklärte, russische Truppen seien den ukrainischen Verteidigern im Pokrowsk-Sektor acht zu eins überlegen.
Die Einnahme von Pokrowsk würde Russland logistische Vorteile für zukünftige Offensiven verschaffen, da die Stadt einen wichtigen Eisenbahn- und Autobahnknotenpunkt darstellt. Experten erwarten, dass russische Truppen nach der Eroberung von Pokrowsk wahrscheinlich in Richtung der Stadt Dobropillja im Norden vorstoßen und versuchen würden, die Gebiete östlich von Dobropillja zurückzuerobern, die sie während des August-Durchbruchs besetzt, aber durch ukrainische Gegenangriffe verloren hatten.
Dennoch: trotz der zunehmenden Personalkrise in der ukrainischen Armee hatte die Selenskyj-Armee die Ukraine-Front unter Kontrolle. Russland erzielt zwar langsam Fortschritte – doch nur unter hohen Verlusten. Chaotische und brenzlige Lagen an der Front gab es immer wieder mal, wie etwa die russische Offensive bei der ukrainischen Stadt Awdijiwka. Doch es sind die kleinen Fortschritte der russischen Armee die die Ukraine das kommende Jahr vor große Herausforderungen stellen werden. (Quellen: Kyiv Independent/Telegraph/Unian/ISW) (sischr)